Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
erfolgen, aber wenn die Gefühle sehr tief eingekapselt sind, wird ein Therapeut hilfreich, manchmal unverzichtbar sein.
Peters Geschichte: der Familienfluch Melancholie und Selbstmord und seine Überwindung
Es sah so aus, als hätte Peter es geschafft, aus den familiären Mustern auszubrechen. Trotz der belastenden Vorgeschichte von Depressionen und Selbstmorden auf beiden Seiten der Familie war er vergnügt durch ein geborgenes Leben gesegelt, in dem ihm alles leicht von der Hand ging. Mit sechsundvierzig führte er ein großes Unternehmen, hatte eine wunderbare, glückliche Familie und war ein Stützpfeiler seiner Kirche und Gemeinde. Aber nach einem eigentlich banalen geschäftlichen Rückschlag ging es auf einmal mit ihm bergab.
»Keine Ahnung, warum, aber nach und nach verlor ich alles Zutrauen zu mir und meiner Fähigkeit, im Unternehmen und innerhalb der Familie die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich fing an, über sämtliche Fehler in meinem Leben nachzugrübeln, und hatte das Gefühl, dass ich jeden enttäuschte, in der Firma wie zu Hause. Ich machte aus jeder Mücke einen Elefanten und schlief nicht mehr, weil mein Hirn sich Katastrophenszenarien von künftigen Fehlschlägen ausmalte. Ich nahm sieben Kilo ab und war gleichzeitig aufgeregt und erstarrt.«
Peters Bruder, ein Arzt, riet ihm zu einem Gesundheits-Check und empfahl ihm darüber hinaus einen Psychiater. Mit dem Gesundheits-Check war Peter einverstanden, aber den Psychiater lehnte er ab. Er war ein unabhängiger und zurückhaltender Charakter, und weil er fürchtete, er sei im Begriff, der Krankheit zu erliegen, die in seiner Familie so viel Unheil angerichtet hatte, zog er nur den Kopf ein, um den Sturm zu überstehen, und hoffte, er könnte sich und seine Firma aus eigener Kraft aus dem Sumpf ziehen.
Die ärztlichen Untersuchungen waren alle ohne Befund, doch Peters Symptome wurden schlimmer. »Ich entwickelte eine komplett irrationale Einstellung zu Geld und war überzeugt, ich triebe mich und meine Firma in den Bankrott; weder meine Frau noch meine Buchhalterin, die mir immer wieder positive Bilanzen vorlegten, konnten mich vom Gegenteil überzeugen. Ich fürchtete eine Buchprüfung durch die Bundessteuerbehörde und sah mich bereits im Gefängnis, ich verlor alle Hoffnung und hegte Selbstmordgedanken – hätte ich die Energie und die Möglichkeit gehabt, so hätte ich mich wahrscheinlich umgebracht, weil es mich dermaßen quälte und weil ich nicht von der aberwitzigen Überzeugung loskam, ich hätte etwas Kriminelles getan und verdiente die gerechte Strafe dafür. Ich wollte meiner Familie keine Last sein und ihr die öffentliche Demütigung ersparen. Es war alles völlig irr, aber ich glaubte es.«
Die Familie setzte sich zusammen, und mit vereinten Kräften brachte sie Peter dazu, einen Psychiater aufzusuchen. Der hörte ihn an und sagte dann, Peters Selbstdiagnose Depression sei richtig; falsch sei hingegen seine düstere Prognose. Es werde eine Weile dauern, aber die Therapie werde ihm mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit helfen, sofern Peter seine Zweifel hintanstelle und sich mit ganzem Herzen und ganzer Hoffnung darauf einlasse. Der erste Schritt sei eine Medikation, zu der als Nächstes, sobald Peter dazu bereit sei, eine kognitive Therapie käme. Selbstmord als Lösung müsse ausgeschlossen werden – die Belastung für seine Familie sei zu groß, außerdem stünden die Chancen für eine vollständige Genesung zu gut.
»Was für eine Erleichterung. Persönlich kamen wir sehr gut miteinander aus, und zum ersten Mal seit Monaten schöpfte ich wieder Hoffnung. Es dauerte eine Zeit lang, bis ich mich aus der Depression herausgearbeitet hatte, aber so tief, wie ich gewesen war, sank ich nie mehr, und ich konnte meine schlimmsten Ängste als das sehen, was sie waren: Ängste, nicht Fakten. Das ist jetzt drei Jahre her, und ich hatte seither keinen Rückfall. Ich kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, dass mich nicht noch mal eine schwere Depression befällt, aber wenn es doch passiert, werde ich zumindest früher eingreifen und mir Hilfe holen können.«
Cleos Geschichte: Konzentration auf ADHS
Als Kind redete Cleo wie ein Wasserfall, sodass ihre Umgebung behauptete, sie habe ein Radio verschluckt, und sie war so stürmisch, dass sie sich oft blaue Flecken holte, weil sie stürzte oder gegen Wände rannte. In der Schule wippte sie mit dem Stuhl und hatte Mühe, der Lehrerin zu folgen, und dennoch war sie
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