Nosferas
Stadt als Heilsbringer an Reisende verkaufen. Ich vermute, es wurde in den Vierziger- oder Fünfzigerjahren gemalt.«
Sie verstummte und sah Luciano auffordernd an. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als sich der zweiten Truhe zuzuwenden. Wie sollte er es schaffen, sie zu öffnen und dann gar den Gegenstand herauszunehmen, der ihm schon in dieser Entfernung Pein bereitete? Luciano versuchte, sich noch einmal zu sammeln. Er durfte nicht an die Prüfung denken und an die fremden Vampire hier in der Halle. Er brauchte seine ganzen Kräfte, um gegen dieses machtvolle Artefakt bestehen zu können. Er schloss die Augen und begann, leise zu summen, bis er seinen Geist völlig auf den Inhalt in der Truhe ausgerichtet hatte. Das Objekt war klein und unförmig, eher farblos. Was konnte das sein? Luciano tappte wie von unsichtbaren Fäden gezogen näher. Es rauschte und dröhnte in seinem Kopf. Sein Körper schien zu vibrieren. Und dann kam der Schmerz. Luciano keuchte, dennoch streckte er den Arm aus und umklammerte den Griff. Mit einem Ruck riss er den Deckel auf. Ein heißer Wind wehte sein Haar zurück. Die Besucher der anderen Familien stöhnten auf und auch einige der Nosferas wichen zurück. Nur Professoressa Enrica trat ein Stück näher, so als wollte sie ihn stützen - oder verhindern, dass er Hals über Kopf davonrannte, was Luciano am liebsten getan hätte. Stattdessen ging er noch näher heran und umschloss das kleine Etwas. Seine Haut begann zu qualmen, als er es ins Licht hob. Ein Knochen! Ein winziger Knochen!
»Er ist echt«, keuchte Luciano und trat wankend auf die Prüfer zu. »Das ist der Knochen eines frühen Märtyrers!«
Einige sprangen von ihren Plätzen auf. Ein paar der Prüfer schrien, die Seigneurs aus Paris warfen ihre Stühle um und pressten sich knurrend an die Wand. Auch Dame Elina aus Hamburg ächzte und griff sich an die Brust. Als Luciano mit hölzernen Schritten auf die beiden Besucher aus Wien zukam, kreischte Baron Maximilian auf, während seine Schwester lautlos zusammenbrach und wie eine Puppe leblos unter den Tisch rutschte.
»Gut gemacht«, kommentierte Professoressa Enrica. »Du kannst den Knochen in die Truhe zurücklegen. Deine Prüfung ist zu Ende. Du hast sie bestanden!«
Die Nacht schritt voran. Es war gegen Mitternacht und die Hälfte der Halle bereits geleert, als Franz Leopold aufgerufen wurde. Er erhob sich so ruhig und gelassen wie nur möglich. Eine Prüfung vor dem dicken Conte in seinen lächerlich bunten Roben und seinen Professoren, was konnte ihm da schon passieren? Allerdings saßen auch Baron Maximilian und die Baronesse Antonia unter den Prüfern. Doch was verstanden die schon von der Abwehr kirchlicher Kräfte?
Sein Name war in der Halle verklungen, und er schritt bereits auf Signora Enrica zu, als diese noch einen Namen rief. »Alisa de Vamalia.«
Franz Leopold warf ihr einen schnellen Blick zu. Ablehnung stand in ihren Augen, als sie sich erhob. Mit unbeweglicher Miene kam sie auf Signora Enrica zu, doch in ihren Gedanken konnte er Wut und Enttäuschung, aber auch Verunsicherung lesen. Franz Leopold wäre auch lieber alleine geprüft worden, aber es hätte schlimmer kommen können.
Sie gingen nebeneinanderher, den Blick geradeaus gerichtet. Auch als sie in der Halle vor die Tische der Prüfer traten, sahen sie einander nicht an. Der alte Giuseppe begann mit Fragen zu der neueren Geschichte Roms, über Mazzini und Garibaldi und über die Vereinigung Italiens zu einem Königreich. Sie schlugen sich beide recht ordentlich. Während der Altehrwürdige weiterfragte, schweiften Franz Leopolds Gedanken ab. Ihn ließ das alles kalt. Was ging ihn das politische Gezerre der Menschen an? Die Grenzen wanderten hierhin und dorthin, mal herrschte ein König, dann gab es eine Republik. Was kümmerte es ihn? Hauptsache, die Menschen waren da, lebten und feierten und gaben leichtsinnig ihr warmes Blut!
Eine Weile ließen die Prüfer Giuseppe gewähren, dann unterbrach Conte Claudio die Fragen zur Geschichte und rief Professore Ruguccio in die Mitte, um die praktische Übung zu erläutern.
»Wir werden nachher mit euch zum Kolosseum hinuntergehen«, begann der Professor. »Ich habe dort heute Nacht ein Kästchen versteckt, das äußerlich diesem hier gleicht. Verfolgt meine Fährte und findet das Kästchen. Öffnet es nicht! Bringt es hierher und zeigt uns, was es enthält. Ich werde ein paar ausgewählte Prüfer ins Kolosseum begleiten, sodass sie von dort eure
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