Nosferas
die Schultern legte.
»So, und nun wollen wir deine Herrin suchen und sie notfalls mit Gewalt zu ihrem Sarg zurückschleppen. Es ist höchste Zeit!«
Ivy tappte durch einen düsteren Torbogen in den dahinterliegenden Hof. Es war ihr, als würde sie in Stücke gerissen. Sie wollte zu Seymour. Sie musste zu ihm! Es stand schlimm um ihn, das konnte sie fühlen. Und doch musste sie der Stimme gehorchen, die sie zu sich rief. Warum konnte Franz Leopold sie nicht hören? Sie war so allumfassend, so übermächtig, dass sie das Gefühl hatte, ihr Kopf stecke in einer riesigen Glocke, gegen die mit dem Hammer geschlagen werde. Der Schmerz schien ihr den Schädel zu sprengen.
»Hör auf, dich gegen meinen Ruf zu wehren«, sagte die Stimme jetzt erstaunlich sanft. »Du kannst nicht dagegen ankommen und der Widerstand bereitet dir nur Schmerzen. Dein Begleiter wird sich um den Wolf kümmern. Lass den Gedanken einfach los und tritt näher.«
Sie folgte der Stimme bis zu dem Durchgang, der zur hinteren Gasse führte. Dort im Schatten stand er. Die Aura der Macht, die ihn umgab, war überwältigend. Wie groß er war! Sein Gesicht jedoch konnte sie nicht erkennen. Sie sah nur den langen, weiten Umhang mit der Kapuze, die er über den Kopf gezogen hatte. Seine Hände waren groß und knochig. Um seinen linken Ringfinger wand sich eine goldene Echse mit smaragdgrünen Augen. Ohne es zu wollen, kniete Ivy nieder, verschränkte die Hände vor dem Leib und senkte den Blick. Der grüne Armreif rutschte ihr unter dem Ärmel hervor bis zum Handgelenk. Sie hörte den Schatten fauchen. Seine Emotionen fegten wie eine Windböe an ihr vorbei.
»Dann habt Ihr die Vampirjäger also vertrieben, dass sie in Todesangst davonrannten.«
Er lachte leise. Ein kaltes, schnarrendes Geräusch. »Ja, das war ich. Ich habe sie bisher nur beobachtet, doch heute waren sie mir wie lästige Fliegen im Gesicht, die man vertreiben muss.«
»Dann hättet Ihr die Morde an den Nosferas also verhindern können? Warum habt Ihr es nicht getan?«
Er machte eine lässige Handbewegung, dass die Augen der Echse aufblitzten. »Man muss seinen Sinn und seine Kräfte auf das Wesentliche konzentrieren. Oh ja, ich kann deine Wut spüren, aber auch du wirst es im Lauf deiner ewigen Existenz lernen müssen, wenn du nicht untergehen willst.«
»Was wollt Ihr von mir?«
»Ah, wir kommen zu den wesentlichen Dingen! Zu dir und mir. So lernen wir uns also endlich kennen, Ivy-Máire. Ich fiebere unserem Treffen schon lange entgegen, doch - sagen wir - es war mir nicht vergönnt, dich zu finden.«
»Was wollt Ihr von mir?«
»Nicht so hastig. Das werde ich dir noch früh genug sagen. Fürs Erste musst du nur wissen …« Er hielt inne.
»Ivy? Wo bist du?« Es war Franz Leopolds Stimme. »Lass diese Spielchen! Verflucht, komm jetzt, sonst lasse ich dich hier zurück!«
Nein, geh nicht!, dachte sie, so intensiv sie konnte, denn zu sprechen oder gar zu rufen schien ihr unmöglich.
»Vielleicht habe ich die Zeit ein wenig vergessen«, sagte der riesenhafte Schatten. »Für den Augenblick bist du entlassen. Du wirst mit niemandem über unsere Begegnung sprechen! Freue dich, Ivy-Máire, wir werden uns schon bald wiedersehen!«
Ivy blickte rasch auf, konnte aber keine Spur mehr von ihm entdecken. Kein Laut, kein Geruch. Selbst seine Aura der Macht war verschwunden. Sie erhob sich schwerfällig und trat zu der Stelle, an der er gestanden hatte. Da lag etwas. Ein Ring, ähnlich dem, den er getragen hatte, nur viel kleiner. Ivy hob ihn auf und steckte ihn an den Finger. Er passte, als wäre er für sie gemacht worden. Und vielleicht war er das ja auch.
»Ivy! Himmel und Hölle, verflucht noch einmal, was denkst du dir eigentlich?«
Sie fuhr herum. »Seymour! Was ist mit ihm?« Sie stürzte auf ihn zu. Der Wolf jaulte.
»Der Stich ist tief, aber so schlimm sollte es nicht sein. Komm, alles Weitere können wir klären, wenn wir zurück sind! Ich kann die Sonne schon riechen!« Ivy nickte nur und lief voran. Franz Leopold schloss trotz der Last auf seinen Schultern zu ihr auf.
Die Helligkeit des frühen Morgens blendete sie. Der Tag würde sengende Hitze bringen. Ihre Vorboten umhüllten ihre Körper und schwächten sie. Es war ein Gefühl, als müssten sie durch Wasser waten. Noch waren die beiden jungen Vampire schneller unterwegs als jeder Mensch, doch jeder Schritt forderte mehr Kraft.
»Wir sollten nicht über das offene Ruinenfeld gehen«, sagte Franz Leopold gepresst.
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