Nosferas
dann ging sie mit trippelnden Schritten nach vorn, sorgsam darauf bedacht, dass ihre Röcke nicht zu weit aufklappten.
Die Professorin wies sie an, ihre Hand auszustrecken und sie dem Bild so weit zu nähern, bis sie ein Kribbeln spüren konnte. Alisa war noch mehr als fünf Schritte entfernt, da begannen ihre Fingerkuppen bereits zu schmerzen. Sie blieb stehen und sah Signora Enrica fragend an. Diese erklärte, wie sie die Energie in ihrem Innern suchen und in Gedanken wie einen Schild formen sollte. Zwei Mal versuchte Alisa, den Anweisungen zu folgen und dichter an das Bild heranzukommen.
»Das schafft sie doch nie«, sagte Franz Leopold abfällig.
»Halt den Mund!«, fauchte Tammo. »Du hast ja keine Ahnung. Was sie jetzt schon weiß, wirst du in einhundert Jahren nicht lernen.«
»Ruhe!«, rief Signora Enrica. »Und du, konzentrier dich!«
Vielleicht war es die Wut auf Franz Leopold oder ihre eigene Schwäche, die so ungewohnt war, jedenfalls schien es Alisa plötzlich, als könne sie die Kraft in sich spüren. Sie konzentrierte sie auf ihre ausgestreckte Hand und trat rasch zwei Schritte vor. Beim dritten Schritt ließ die erneute Pein sie erstarren.
»Ja, das war nicht schlecht«, lobte Signora Enrica. »Versuche, noch ein wenig näher zu kommen.«
Nach zwei weiteren Anläufen brach die Professorin die Übung ab. Sie schickte Alisa auf ihren Platz zurück und rief Ireen auf, doch plötzlich hielt sie mitten in der Bewegung inne. »Ruhe!«, gebot sie mit so scharfer Stimme, dass alle verstummten und nach vorn starrten. Ihr Kopf ruckte nach rechts zu der geschlossenen Tür, die dem Pult am nächsten war. Sie sog hörbar die Luft ein. »Ein Wolf?«
Die Schüler starrten ebenfalls zur Tür, von wo jetzt gedämpfte Laute hereindrangen. Die Klinke wurde heruntergedrückt, ein Luftzug ließ die vorderen Öllampen erlöschen. Ein älterer Mann mit drahtigem Körperbau und ergrautem Haar, das noch immer ein wenig rötlich schimmerte, kam herein, gefolgt von einer jungen Frau. Ihr Gesicht war rein und wunderschön, ihr Haar fiel in dichten roten Flechten über den Rücken. Sie hielt sich ein wenig hinter ihm, ließ aber den Blick aufmerksam durch das Klassenzimmer schweifen.
»Ja?«, fragte die Professorin ein wenig barsch.
»Ah, Signora Enrica, wenn ich mich nicht täusche? Wir hatten noch nicht das Vergnügen. Ich bin Donnchadh«, stellte er sich vor und neigte den Kopf. »Und das ist mein Schatten, Mistress Catriona. Unser Schiff geriet in stürmische Gewässer, verzeiht die Verspätung.«
»Ihr seid der Clanführer der Lycana, ich habe von Euch gehört. Seid willkommen«, sagte die Professorin, die sich wieder gefasst zu haben schien. Dennoch blähten sich ihre Nasenflügel und auch Franz Leopold konnte das wilde Tier wittern.
»Nun darf ich Euch endlich unsere beiden jungen Lycanas aus Irland vorstellen.« Donnchadh machte zwei Schritte zur Seite. Zuerst trat ein Junge von ungefähr fünfzehn Jahren ein. Er war groß, mager, aber muskulös, und hatte kurzes rötliches Haar. Ernst blickte er sich im Klassenraum um.
»Das ist Mervyn«, stellte der Clanführer ihn vor. Franz Leopold befand ihn nach einer kurzen Musterung als uninteressant. Er schien so langweilig, dass er weder als Verbündeter noch als Opfer taugte. Nun ja, was konnte man schon von einer Familie erwarten, die in einer abgelegenen Festung hauste mit nichts als Gras und Schafen auf der einen und dem Meer und zahllosen Seevögeln auf der anderen Seite!
»Und hier haben wir Ivy-Máire!«
Als Erstes sah Franz Leopold den weißen Wolf, der hinter Mervyn auftauchte. Er blieb einen Augenblick stehen und ließ die gelben Augen aufmerksam über die jungen Vampire wandern, so als suche er nach einer möglichen Gefahr. Dann winselte er kurz, wich zur Seite und ließ sich auf die Hinterbeine nieder. Franz Leopold lief ein Schauder über den Rücken, als er dem Blick des Wolfes für den Bruchteil einer Sekunde begegnete. Er war kurz abgelenkt und hob den Kopf erst wieder, als er das Raunen vernahm, das durch den Saal ging.
»Ivy-Máire.« Der Name brandete wie eine Welle durch den Raum, als die Vampirin vortrat. Sie war mindestens einen Kopf kleiner als Mervyn und sehr zierlich gebaut, ja fast zerbrechlich. Doch das war nicht, was Franz Leopold schlucken ließ. Es war auch nicht ihr langes silbrigweißes Haar oder das schlichte Gewand, das in der gleichen Farbe schimmerte. Sie trug keinen Schmuck. Nur um ihr Handgelenk schmiegte sich ein
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