Nosferas
Geheimnisse würde sie zu allen Zeiten wohl zu bewahren wissen. Und dass dies nicht wenige waren, davon war Alisa überzeugt!
»Ich freue mich auch, Ivy.« Ihr Blick senkte sich zu dem Wolf hinab, der sie aus gelben Augen musterte. Zögernd näherte sie die Hand seinem Kopf. Der Wolf rührte sich nicht von der Stelle, nur die Nackenhaare stellten sich auf. Alisa sah Ivy fragend an. »Wird er nach mir schnappen?«
Zu ihrem Erstaunen gab sie die Frage weiter. Alisa verstand nur den Namen des Tieres: Seymour. Vielleicht sprach sie gälisch mit ihm. Der Wolf winselte kurz, dann glättete sich das Fell wieder.
»Du darfst ihn anfassen«, sagte sie schlicht.
»Seymour«, wiederholte Alisa und legte dem Wolf die Hand in den Nacken. Wie weich er sich anfühlte!
»Das ist eine große Ehre. Er ist sehr eigen in seinen Vorlieben und schätzt es normalerweise nicht, von Fremden berührt zu werden.«
»Er ist wundervoll!«, schwärmte Alisa.
Ivys Lächeln verblasste ein wenig. »Ja, das ist er. Aber er ist auch mein Schatten, dem ich nicht so einfach befehlen kann zurückzubleiben, wenn es mir beliebt.«
Alisa machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er ist nur ein Wolf, kein erwachsener Vampir, der sich ständig einmischt und einem den Spaß verdirbt. Wir in Hamburg haben keine Schatten. Wir leben alle miteinander. Das hat Vorteile, aber auch Nachteile. Dame Elina hat bestimmt, dass Hindrik für uns verantwortlich ist, also muss er ein Auge auf uns haben. Er lässt sich auch nicht so einfach wegschicken wie Lucianos Francesco, wenn wir keine Lust auf ihn haben. Er entscheidet selbst, ob das, was wir vorhaben, gefährlich sein könnte und wir seines Schutzes bedürfen!«
»Dann sollten wir nachher so unauffällig wie möglich verschwinden«, schlug Ivy vor.
»Ja, das sollten wir!«
Viel Neues erfuhren die jungen Vampire in der zweiten Hälfte der Nacht nicht mehr. Professor Ruguccio ließ sie noch ein paar einfache Abwehrübungen durchführen, dann lenkten Schritte auf dem Gang vor dem Unterrichtssaal die Aufmerksamkeit der Schüler ab. Die Köpfe wandten sich nach links, als die Tür geöffnet wurde und Conte Claudio - heute in Royalblau mit üppiger Goldstickerei - eintrat. Ihm folgten die restlichen Clanführer und ihre Begleiter. Professor Ruguccio neigte das Haupt und überließ die Bühne dem Conte, der sich sogleich vor dem Pult postierte. Er rieb die fleischigen Hände und legte dann die langen Nägel aneinander.
»Erben der Nosferas, Pyras und Vamalia, der Dracas, Vyrad und Lycana«, begann er. »In dieser Nacht hat eure Ausbildung begonnen. Ihr hattet bereits die Gelegenheit, erste Erfahrungen zu sammeln. Doch auch wir, eure Familienoberhäupter, waren in dieser Nacht nicht müßig und haben zusammengestellt, was ihr braucht, um eure Erkenntnisse festzuhalten, um zu üben und zu experimentieren. Wir haben Bücher gebracht, die euch die Geschichte Roms und unsere Sprache näher bringen und so manch anderes Geheimnis enthüllen. Sie sollen euch helfen, die großen Aufgaben zu meistern, die wir in unseren Hallen im Untergrund Roms für euch erdacht haben.«
Bücher! Alisa konnte ihre Freude kaum verbergen. Allerdings sah sie auch, dass die anderen Schüler mit weit weniger Begeisterung reagierten. Nur Ivy und die Engländer schien diese Ankündigung ebenfalls eher zu freuen als zu erschrecken. Zwei Servienten traten mit großen Kisten in den Armen in den Raum und begannen, die Bücher zu verteilen. Dann überreichten die Clanführer den Angehörigen der eigenen Familie ihre gefüllten Schultaschen. Dass diese nicht für alle gemeinsam besorgt worden waren, fiel deutlich ins Auge. Alisa grinste in sich hinein, als sie den einfachen Ranzen aus braunem Leder entgegennahm. Lucianos Schultasche dagegen war aus feinem, weichem Leder, schwarz mit abgesetzten Nähten und einer silbernen Schnalle. Doch mit der Pracht der Wiener Taschen konnte auch sie nicht mithalten. Mit einem verklärten Lächeln strich Marie Luise über den goldenen Riemen, der mit winzigen Edelsteinen verziert war. Fernand streckte den Arm aus, um ihre Tasche zu berühren, doch sie zog sie weg und funkelte böse in seine Richtung.
»Nimm bloß deine dreckigen Finger von meinen Sachen.«
Fernand zuckte nur mit den Achseln und nahm seine Ratte von der Schulter. Er öffnete seinen Beutel und ließ sein Schoßtier ausgiebig schnuppern. Die Ratte verschwand im Innern des schlichten Lederbeutels und machte es sich wohl zwischen Papier, Feder und
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