Nosferas
der Londoner Vampire an. Ireen schlug ein wenig verlegen die Augen nieder. »Ich denke, weil die Segenssprüche und das Ganze, was bei einer Weihe gemacht wird, dann noch frisch sind.«
»Ein guter Gedanke«, räumte Signora Enrica ein. »Aber das ist nicht das Entscheidende! Ich sage euch, selbst jetzt, da wir mit eurer Ausbildung noch nicht einmal begonnen haben, würdet ihr keinen zu großen Schaden erleiden, solltet ihr eine neue Kirche betreten. Auch die neuen Kreuze und Heiligenbildchen taugen nicht viel, denn der Geist des Glaubens ist den Menschen heute abhanden gekommen. Gerade in Rom! So viel Heuchelei, so viel Machthunger unter dem Mantel der Kirche. Sie beten nur noch um Geld und Ruhm. Die Mysterien sind verloren gegangen. Alles sollen die Wissenschaften erkennen und erklären. Uns können sie damit nicht erklären und deshalb verdrängen viele Menschen die schiere Möglichkeit unserer Existenz. Ein gewaltiger Vorteil! Wer nicht an uns glaubt, kommt auch nicht auf die Idee, sich vor uns zu schützen.«
»Dann wohnt also die größte Macht der christlichen Kirche in den alten Katakomben«, schloss Raymond. Chiara neben ihm nickte heftig. »Ja, es ist selbst für uns - die bei einer Kirche nicht einmal mit der Wimper zucken - schwer, sie zu betreten.«
»Sind das weit verzweigte Labyrinthe?«, wollte Joanne wissen.
»Das kannst du glauben!«, bestätigte Chiara. »Außerhalb der alten Stadtmauer gibt es kilometerlange unterirdische Grabgänge auf mehreren Etagen. Ich weiß nicht einmal, ob unseren Altehrwürdigen alle bekannt sind.«
Joannes Augen leuchteten. »Das klingt aufregend und erinnert mich an unser unterirdisches Paris. Ich würde das gern einmal sehen!«
Tammo neben ihr machte ein zweifelndes Gesicht und warf seiner Schwester einen beunruhigten Blick zu.
Signora Enrica rief die Schüler zur Ruhe und fasste die erste Lektion noch einmal zusammen: »Ein heiliger Gegenstand zieht seine Macht also aus der Glaubenskraft des Menschen, der ihn herstellt oder benutzt.«
»Und was nützt uns das jetzt?«, rief Fernand dazwischen und fuhr sich mit einer schmutzigen Hand durch das Haar, das nicht minder verstaubt wirkte. »Wenn was heilig ist, dann ist es gefährlich, und wir halten uns deshalb lieber von allem fern, was auch nur entfernt nach Kirche riecht? Das haben wir schon immer getan!«
Die Professorin presste die Lippen aufeinander. Sie sah den schmuddeligen Jungen ärgerlich an. »Nein, das bedeutet es ganz und gar nicht. Wenn wir uns einem heiligen Ort oder Gegenstand nähern, müssen wir unsere Sinne öffnen, um zu erspüren, wie groß seine Macht ist. Wenn es uns gelingt, das einzuschätzen, dann können wir entscheiden, ob wir seiner Wirkung auf uns gewachsen sind oder nicht.« Sie verstummte plötzlich. Ein großer schwarzer Kater hatte sich durch den Türspalt gezwängt und war zu Maurizio gelaufen, eine fette, noch zappelnde Ratte im Maul. Er nahm die Ratte, biss ihr in die Kehle und saugte sie aus. Dann ließ er den Kadaver unter sein Pult fallen.
Signora Enrica fuhr ihn an. »Was soll das bedeuten?«
Maurizio hob die Schultern. »Ihr wisst doch, dass ich meinen Kater Ottavio abgerichtet habe, mir alle Ratten zu bringen, die er erwischen kann.« Stolz schwang in seiner Stimme mit.
Die Signora starrte ihn an. Ihr langer Finger deutete auf den Rattenkadaver. »Es ist mir egal, was du draußen in den Ruinen treibst, aber nicht hier in den Räumen der Akademie! Ich sage das nicht noch ein zweites Mal.«
»Ja, Tante Enrica«, sagte Maurizio gedehnt.
»Ja, Signora Enrica!«, fuhr sie ihn an und wandte sich dann abrupt ab, um der Klasse die alte Steintafel mit dem Fischsymbol noch einmal zu zeigen.
»Als Erstes müssen wir also stets danach trachten, die Stärken unserer Feinde zu kennen. Nur so können wir entscheiden, ob wir uns mit ihnen anlegen sollten. Wir Nosferas haben es da ein wenig leichter, da wir im Lauf der Generationen eine Art Resistenz gegen die kirchlichen Mächte entwickelt haben. Bei einigen ist sie stärker, bei anderen schwächer.«
»Das ist ganz schön ungerecht«, flüsterte Tammo seiner Banknachbarin zu.
»Aber auch ihr anderen werdet lernen, wie ihr eure Kräfte bündeln und gezielt einsetzen könnt.« Die Signora hob das Bild hoch und sah in die Runde. »Alisa, komm nach vorn.«
Schadenfrohes Gelächter hallte in ihrem Kopf und das Bild verkohlter Fingerspitzen trat vor ihr inneres Auge. Sie fuhr herum und warf Franz Leopold einen wütenden Blick zu,
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