Nosferas
sie erfahren, was Ivy zu dieser Äußerung bewog, doch sie ahnte, dass das irische Mädchen - im Gegensatz zu Franz Leopold - nicht preisgeben würde, was sie aufgrund ihrer besonderen Gabe an Gedanken aufgefangen hatte.
Die hübsche junge Unreine, die Zita zur Hand ging, trat mit dem quäkenden Säugling im Arm in die Halle. In der anderen Hand balancierte sie ein mit Bechern und zwei Krügen beladenes Tablett. Das Kind zappelte. Die Becher klirrten, als sie ins Rutschen kamen. Luciano lächelte Raphaela zu, machte aber keine Anstalten, aufzustehen und ihr zu Hilfe zu eilen. Alisa sprang auf und half ihr, das Tablett sicher auf einem Tisch abzustellen.
»Ich danke dir. Das musst du wirklich nicht tun!«, sagte Raphaela ein wenig verlegen. Sie hatte wirklich ein hübsches Lächeln!
»Das war doch selbstverständlich!«
Alisa kehrte zu ihrem Platz zurück. Raphaela verteilte die Becher und eilte dann wieder zur Tür. »Ich glaube, ich muss kurz das kleine Monster abfüttern, sonst gibt es gar keine Ruhe! Je kleiner, desto gieriger, habe ich den Eindruck.« Sie stupste das Kind zärtlich auf die Nase und ging hinaus. Das Quäken verhallte.
Ivy nippte an dem frischen Blut, ihre spitzen Eckzähne schimmerten schneeweiß im Lampenlicht, während Luciano den Inhalt des Bechers in einem langen Zug hinunterstürzte, als habe er nächtelang nichts mehr zu trinken bekommen.
»Es ist ein unreines Kind, nicht wahr?«, sagte Alisa zu Luciano.
»Ja, und Raphaela wird es nun die nächste Ewigkeit am Hals haben. Es wird immer so bleiben!«
»Die Vorstellung ist entsetzlich«, murmelte Alisa.
Luciano stimmte ihr zu. »Der Conte und auch der altehrwürdige Giuseppe haben Melita immer wieder gewarnt, aber sie wollte ja nicht hören, und nun haben wir das schreiende Bündel hier, das niemals erwachsen werden wird. Melita hat längst die Lust verloren, sich um das Kind zu kümmern!« Sie schwiegen ein wenig unbehaglich, bis Tammo die Stimme erhob.
»Aber wer soll denn dann den Unterricht abhalten, wenn die Professoren nicht im Haus sind?« Hoffnung schwang in seiner Stimme.
»Ich fürchte, da gibt es hier im Haus noch so einige, die du besser kennenlernen wirst, als dir lieb sein kann«, stöhnte Luciano. »Sieh mal da hinten. Das ist Signora Letizia. Und neben ihr steht ihr Bruder Umberto. Sie sind sozusagen die Gelehrten unter den Altehrwürdigen. Und dass sie heute Abend hier auftauchen, lässt die üble Ahnung in mir aufsteigen, dass wir uns schon bald in ihren Klauen wiederfinden!«
Alisa betrachtete die beiden Vampire, die in die Halle mit der goldenen Decke getreten waren und ihren Blick über die versammelten Schüler schweifen ließen. Sie sahen sich so ähnlich wie Zwillinge: Beide waren klein, hatten nur noch wenig dünnes weißes Haar auf dem Kopf und wirkten so ausgetrocknet wie zwei Mumien. Die pergamentartige Haut, die sich eng über die Gesichtsknochen spannte, ließ ihre Züge nicht gerade sympathisch wirken. Die Lippen waren so schmal, dass man sie kaum erkennen konnte.
Neben ihr stieß Tammo ein leises Keuchen aus und griff nach seinem Blutbecher. Seine Hand zitterte.
»Meinst du nicht, du übertreibst?«, neckte ihn seine Schwester und stand auf. Der Unterricht würde gleich beginnen.
»Lass es uns hoffen«, knurrte er nur und folgte ihr.
»Findest du immer noch, dass ich übertreibe?«
Alisa starrte auf den Zettel in ihrer Hand, den Tammo eine Stunde nach Beginn des Unterrichts unauffällig nach hinten hatte geben lassen. Sie wusste nicht so recht, ob sie darüber lachen konnte. Sie war wissbegierig und also auch an der römischen Geschichte interessiert, doch wie die beiden Altehrwürdigen den Unterricht abhielten, machte sie einfach sprachlos. Während Letizia mit einem Rohrstock in der Hand zwischen den Bänken hin und her ging, saß ihr Bruder vorn in einem bequemen Sessel, die klauenartigen Hände über den mageren Leib gefaltet, und rasselte Namen und Daten aus der Zeit der römischen Kaiserreiche herunter.
Wie sollte man sich das alles merken? Zu Beginn hatte Alisa versucht, die wichtigsten Dinge mitzuschreiben. Fast ehrfürchtig hatte sie ihre neue Schulmappe ausgepackt und Papier, Tinte und eine der Stahlfedern bereitgelegt, doch jetzt starrte sie nur noch auf die Seiten vor ihr, die bedeckt waren mit angefangenen Sätzen, Zahlen und Namen, von denen sie nicht wusste, ob sie richtig geschrieben waren. Nicht zu schreiben war aber noch schlimmer, da sie nun nichts mehr von der
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