Nosferatu 2055
gegeben, zu viele Augenpaare, die sich in Erkenntnis eines Schicksals schlimmer als der Tod weiteten, zuviel nacktes Entsetzen, als daß sich kein magischer Hintergrund aufbauen würde, und zwar so stark, daß er selbst seine Fähigkeit überstieg, ihn zu tarnen. Die Zeit wurde langsam knapp. Aber wenn der Aufstieg kommt, dachte er, werde ich für mein Volk ein Held sein. Mein Opfer wird nicht umsonst gewesen sein.
Als er schließlich im Ostflügel angekommen war, hörte er Martins Worte nur halb. Alles war da. Alle Proben, die er benötigte. Er sehnte sich danach, mit der Arbeit zu beginnen, aber er wandte sich von den Proben ab und fragte statt dessen, wo das andere Material war.
Martin deutete auf den flackernden Schirm. Sein Lakai hatte gute Arbeit geleistet. Zwei Einheimische oder ein paar Wichte von weiter weg aus Bayern oder von jenseits der Grenze. Ein Marokkaner, urteilte er, möglicherweise aus Marseille. Martin hatte recht getan, die Opfer, die er brauchte, aus dieser elenden und verlorenen Stadt zu rekrutieren. Selbst der Chinese mochte von dort stammen. Das Schicksal dieser Opfer würde sich von demjenigen der anderen unterscheiden, die vor ihnen hierhergebracht worden waren. Ein Dutzend von ihnen stand angekettet da und harrte hilflos der Dinge, die da kommen mochten.
»Ich könnte mich darum kümmern, Euer Gnaden«, erbot sich Martin. »Ich kann die Ergebnisse bringen.«
»Nein«, sagte Luther zögernd. »Dann konzentriere ich mich zu sehr darauf, sie zu sehen. Wir sollten das gemeinsam erledigen, Martin.«
»Vielen Dank, Euer Gnaden. Es ist eine Ehre«, sagte Martin, den ein Gefühl der Demut und zugleich des Stolzes durchströmte.
»Das ist es in der Tat. Gedichte und Lieder werden dem zu Ehren geschrieben werden«, sagte Luther, dessen Sinn für Humor das blutige Feuer in seinem Kopf durchbrach. »Dein Name wird dazugehören.«
Martin, der den Spott nicht durchschaute, nahm das Lederetui und füllte es mit einigen der Proben.
Luther wischte sich die letzten Blutspuren aus den Mundwinkeln und wartete.
15
Es war so offensichtlich«, lamentierte Michael. »Ich habe nur so vor mich hin geträumt, und da ist es mir eingefallen. Ich dachte an die eine Frau auf der Liste. Ich dachte nur, hey, wenn alle Nichtmagier Frauen wären, würde das die Verteilung nach Geschlecht ausgleichen - nun, beinahe -, was nett wäre. Ordentlich.«
»Ich kann nicht ganz folgen«, gestand Serrin.
»Ich mag die Dinge ordentlich. Ich glaube, die Welt ist grundsätzlich wohlgeordnet, wenn man sie nur richtig betrachtet. Aber jetzt ist natürlich nicht der richtige Zeitpunkt, um über Metaphysik zu diskutieren.« Michael redete so schnell, daß Serrin ganz froh darüber war, daß Michael ab und zu abschweifte. Das erleichterte es ihm, das Wesentliche mitzubekommen. Aber er wartete immer noch auf die Schlußfolgerung.
»Dann ist mir ein Licht aufgegangen. Es sind fast alles Männer, richtig?«
»Und?«
»Dann wurde mir klar, daß nicht diese Männer entführt worden waren, sondern ihre Ehefrauen. Sie sind alle verheiratet. Dasselbe gilt für die Frau. Ihr Mann wurde vor elf Monaten entführt. Das besagen die Codesymbole. Sie stehen für jeden Fall, wo der Ehepartner entführt wurde. Lächerlich simpel. Nur eine Täuschung. Man sollte es für kaum der Mühe wert halten, sieht man einmal davon ab, daß man so eine einfache Sache ganz leicht übersehen kann. Schließlich hat es bei mir geklappt.«
»Schön. Das verbindet die Leute also. Aber warum gerade sie?« fragte Serrin.
»Ach, das ist etwas anderes. Die Entführten sind keine Magier, also kann es das nicht sein. Tatsächlich haben wir sogar einen Magier, dessen Frau entführt wurde, und er nicht«, fuhr Michael fort.
»Toll. Das klingt ziemlich rätselhaft«, sagte Serrin.
»Genau. Jetzt werfen wir einen Blick auf die zeitliche Abfolge. Die Kette der Opfer erstreckt sich beinahe linear von nichtelfischen Nichtmagiern zu nichtelfischen Magiern bis hin zu Elfenmagiern. Das bedeutet, daß diese Leute etwas anderes gemeinsam haben müssen, das zu dieser Progression einen Bezug hat. Etwas, das menschlichen Magiern mehr oder stärker zu eigen ist als gewöhnlichen Leuten und Elfenmagiern wiederum mehr oder stärker als menschlichen. Vielleicht.«
»Warum dann aber nicht direkt zur besten Quelle vorstoßen? Warum nicht gleich Elfenmagier nehmen?«
»Ja, das ist eine interessante Frage. Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen«, sagte Michael
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