Notaufnahme
zehn Jahren habe ich zum ersten Mal mit dem Mid-Manhattan zu tun gehabt. Ungefähr ein Jahr, nachdem Dr. Dogen hierher kam, bin ich weggegangen; ich habe also von ihrer Amtszeit nicht allzu viel mitbekommen. Ich bin wieder runter nach Nashville gezogen, wo die Familie meiner Frau lebt, und habe dort praktiziert. Nachdem meine Ehe geschieden war, bekam ich wieder Lust, in einem großen Krankenhaus zu arbeiten und die Dinge zu tun, die ich schon immer tun wollte. Seit vergangenem September bin ich wieder hier.«
»Ich habe gehört, dass Sie als Fellow hier sind«, sagte ich nach einem kurzen Blick in Chapmans Notizen.
»Ja, stimmt. Ist zwar eine etwas ungewöhnliche Reihenfolge, aber nachdem meine Frau mich verlassen hatte, wollte ich etwas tun, bei dem ausnahmsweise mal ich glücklich und zufrieden bin. Neurochirurgie hat mich schon immer interessiert. Also habe ich finanziell zurückgesteckt und nehme nun an einer Art Praktikum teil. Die meisten der anderen Teilnehmer sind zwar ‘ne Ecke jünger als ich, aber Hauptsache ist, dass ich jetzt im OP assistieren kann. Vielleicht habe ich ja Glück und kann demnächst meine neurochirurgische Facharztausbildung beginnen – das hätte ich schon vor Jahren tun sollen.«
Ich tauschte Blicke mit Chapman und schaute dann wieder auf Harpers wippendes Bein. Ich nahm an, dass Mike das gleiche dachte wie ich, und war dankbar, dass er keine dumme Bemerkung über die ach so ruhigen Hände eines Hirnchirurgen machte. Aber Mike und ich waren es gewohnt, dass die Menschen in unserer Gegenwart nervös wurden.
»Sie waren also gestern Morgen im OP, ist das richtig?«
»Ja, das stimmt. Dr. Spector operierte übrigens einen Schlaganfall-Patienten – Hirnschlag in der rechten Gehirnhälfte. Wann immer es mir möglich ist, sehe ich Spector zu. Er ist wirklich ein Genie.«
»Und er hat Sie als seinen Assistenten aus der Zuhörermenge gepickt?«
»Sozusagen. Es war nur ein knappes Dutzend von uns anwesend, und die meisten hatten noch nie mit ihm bei einer solchen Operation zusammengearbeitet. Aber es ist mir trotzdem eine Ehre gewesen.«
»Dem Patienten geht es gut, habe ich gehört.«
»Er ist zwar noch nicht über den Berg, aber im Augenblick sieht’s ganz gut für ihn aus.«
»Nehmen Sie auch an der Huntington-Studie von Spector teil?«
»Offiziell nicht. Aber ich hoffe trotzdem auf seine Unterstützung, um in das neurochirurgische Programm zu kommen. Natürlich hatte ich im Lauf meiner beruflichen Karriere Gelegenheit, mich mit dieser Krankheit auseinander zu setzen. Man kann sicher sagen, dass ich seine Arbeit sehr interessiert verfolge.«
»Wie kam es, dass DuPre und Sie sich heute Abend trafen?«
»Ich ging in die Bibliothek, auf der Suche nach einem bestimmten Buch. Am Eingang zum Lesesaal traf ich auf eine Gruppe von Kollegen, die sich über Spectors neue Röntgenbilder von einem seiner Patienten unterhielten, und DuPre schlug vor, wir sollten uns die Aufnahmen einfach anschauen. Die Röntgenbilder hingen unten in der Radiologie aus. Ich wollte zwar erst nach dem Buch Ausschau halten, aber …«
» Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach ich ihn, »aber wessen Idee war es?«
»John DuPres. Er sagte, er habe nicht mehr viel Zeit, weil er zu Hause zum Abendessen erwartet werde. Deshalb bat er mich, gleich mit ihm zu runterzugehen.«
Prima. Schon nach einer halben Stunde hatten wir widersprüchliche Aussagen – und dazu noch zu einer völlig belanglosen Frage: DuPre sagte aus, es sei Harpers Idee gewesen, in die Radiologie zu gehen; Harper behauptete, DuPre sei die treibene Kraft gewesen.
Widersprüche, so hatte mir Rod Squires beigebracht, waren die sichersten Anzeichen für die Wahrheit. Unsinn, wenn’s nach mir ging. Es sei ganz natürlich, dass unterschiedliche Menschen dieselben Dingen aus unterschiedlichen Perspektiven sehen, hatte man uns gelehrt, aber mit diesem Glauben konnte man meiner Ansicht nach den besten Fall in den Sand setzen.
»Okay, also sind Sie und DuPre runter in den zweiten Stock gegangen. Was passierte dann?«
Von diesem Punkt an stimmte Harpers Schilderung wieder mit der von DuPre überein. »Ich meine, als ich das Blut gesehen habe, dachte ich sofort an Gemma. Hat der Kerl schon gestanden?«
»Wir stellen hier die Fragen, Dr. Harper. Hat er irgend etwas über Dr. Dogen oder den Mord gesagt?«
»Nein, in meiner Anwesenheit hat er kaum etwas von sich gegeben. Aber ich bin auch gleich runter in die Halle zum Telefon gerannt. Er schien
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