Notaufnahme
Schlaftrunk, um meine angespannten Nerven zu beruhigen. Obwohl ich krampfhaft versuchte, mir einzureden, der Wagen sei nur zufällig einen Augenblick lang außer Kontrolle geraten, fragte ich mich, wer mich lieber tot als lebendig sehen wollte.
15
Zum ersten Mal seit Tagen weckte mich die Sonne. Der Zwischenfall vom Vorabend und meine Mutmaßungen kamen mir wie ein böser Traum vor. Wahrscheinlich war meine Phantasie mit mir durchgegangen.
Zac und ich drehten unsere Runde diesmal in der entgegengesetzten Richtung und machten einen großen Bogen um die betreffende Kreuzung. Ich ließ Zac an meiner der Fahrbahn abgewandten Seite laufen und ging entgegen der Fahrtrichtung, um den herannahenden Verkehr im Blick zu haben.
Wieder zu Hause angekommen, packte ich meine Gymnastiksachen und fuhr zur West Side. Meinen Jeep parkte ich direkt vor dem Gebäude, in dem sich das Ballettstudio befand.
Fünf oder sechs bekannte Gesichter hatten sich bereits zu den Aufwärmübungen versammelt. Als William den Raum betrat, nahmen wir unsere Plätze an den Stangen ein.
Tschaikowskijs Symphonie Nummer 6 in b-Moll. Mit gestrafften Schultern und majestätisch erhobenem Kopf führte uns William in der Mitte des Raumes das erste Plié und Relevé vor.
Wie immer genoss ich es, mich in der Musik zu verlieren und mich auf die Schritte und Positionen zu konzentrieren, die William vorgab. Meine Mutter hatte mich mit vier zum Unterricht angemeldet, und seitdem war Ballett meine Lieblingsentspannung.
William hatte viele Jahre beim American Ballet Theater getanzt, bevor er sich von der Bühne zurückzog und nur noch unterrichtete. Die für diese Kunstform erforderliche Disziplin und Konzentration ermöglichten es mir, die manchmal unerfreuliche Realität, in der ich tagsüber lebte, für die Dauer einer Übungsstunde zu vergessen.
William schritt seine an der Stange aufgereihten Eleven ab und studierte die Positionen. »Bauch und Po rein, Judith«, korrigierte er die schlanke junge Frau hinter mir. »Schultern zurück, Alex. Ich möchte eine gerade Linie sehen, junge Dame, bis in die Fußspitzen.« Ich streckte meinen Fuß und machte meinen großen Zeh so lang, wie es die weißen Übungsschuhe erlaubten.
William ließ uns eine zweite, vierte und fünfte Position einnehmen; dann wiederholten wir die Übungen mit der anderen Seite. Als Mädchen hatte ich nach meinem Unterricht immer noch die Älteren bei den komplizierteren Positionen beobachtet und versucht, ihre Schritte nachzumachen. Und dabei hatte ich von dem Tag geträumt, an dem ich als Odette und Odile, als Giselle oder Ophelia auftreten würde – damit, dass später einmal der Gerichtssaal meine Bühne sein würde, hatte ich nie gerechnet.
William dirigierte uns in die Mitte des Raumes, wo wir Pirouetten und Fouettés übten, bis uns der Schweiß herunterlief. Ich hoffte, diese Stunde würde nie enden und ich würde nie wieder aus dieser Phantasiewelt entlassen und ins wirkliche Leben zurückgestoßen. Aber nachdem das Adagio lamentoso verklungen war, verbeugte sich William vor uns; wir erwiderten diese Geste und verabschiedeten ihn in der Tradition von Schülern großer Meister mit dezentem Applaus.
Ich duschte und schlüpfte in meine aus Leggings und Schlabberpulli bestehende Wochenenduniform. Mein nächstes Ziel war ein Parkhaus an der East Side, von wo aus ich zu Louis’ Salon eilte. Dort waren ein neuer Haarschnitt und das Aufhellen meiner wenigen blonden Strähnen fällig, die ich den finnischen Vorfahren meiner Mutter verdankte. Als ich es mir auf Elsas Stuhl bequem machte, warf ich einen Blick auf den Pager an meinem Gürtel. »Mit etwas Glück meldet sich das Ding nicht, bis wir fertig sind«, bemerkte ich und tätschelte das kleine schwarze Kästchen, das eine Art Nabelschnur zwischen mir und dem Police Department darstellte.
»Zum Glück werden keine Bilder übertragen; die Jungs von der Mordkommission bekämen einen Mordsschrecken, wenn sie Sie so sähen«, erwiderte Elsa, während sie einzelne dünne Haarsträhnen mit Alufolie umwickelte.
Ich hörte mir Elsas Empfehlungen in Sachen Kino und Broadway an – irgendwie schaffte sie es, sich alles Neue anzusehen, bevor ich überhaupt erfuhr, was es an Neuem gab. Wie auf einem Fließband glitt ich sanft von ihrer Obhut in die von Louis, der meine frisch aufgehellte Haarpracht um zwei Zentimeter kürzte und mich nebenbei über mein Liebesleben interviewte. Louis, durch und durch Franzose, bedauerte wieder einmal zutiefst
Weitere Kostenlose Bücher