Notbremse
nach allen Richtungen, um die zwei Dutzend anderen Gäste kurz taxieren zu können. Alles Geschäftsleute, konstatierte er. Vielleicht fünf oder sechs Touristen. Einige aus Japan, ein paar aus den USA. Jedenfalls konnte er keinen der Chinesen entdecken, die ihm den gestrigen Abend zum Albtraum gemacht hatten.
Hocke erhob sich und steuerte auf das lange Büfett zu, das sich entlang des Durchgangs zum Foyer erstreckte. Von der dortigen Wand waren einige Holzplatten der Vertäfelung herausgebrochen.
Eigentlich hatte er Magenweh und überhaupt keinen Hunger. Ihn quälten Durchfall und Sodbrennen und er hätte sich am liebsten wieder hingelegt. Doch seine Vernunft sagte ihm, dass er etwas zu sich nehmen musste. Er brauchte Kraft und er musste einen kühlen Kopf bewahren. Wie in Trance, so schien es ihm, griff er nach Wurst und Käse, nahm sich von den ›scribbled eggs‹ und je ein Plastikdöschen Marmelade und Butter.
Während er dann an seinem Tisch saß und immer mal wieder einen Blick auf den Bildschirm warf, versuchte er sich zum zehntausendsten Mal vorzustellen, weshalb man so großen Wert darauf gelegt hatte, ihn zur Verbotenen Stadt zu locken. Wenn sie ihn umbringen wollten, dann hätten sie es doch längst im Hotel tun können. Vergangene Nacht im Aufzug – oder in seinem Zimmer, das sie zweifelsohne hätten öffnen können. Sollte etwas inszeniert werden? Eine öffentliche Hinrichtung gar? Hinrichtung, pochte es durch sein Gehirn. Wie viele Hinrichtungen fanden jährlich in China statt? Erst kürzlich hatte er in der Zeitung eine Meldung von Amnesty International gelesen, die wieder einmal die Menschenrechtsverstöße in China anprangerte. Jedenfalls war man hier im Umgang mit der Todesstrafe nicht gerade zimperlich. Kopfschuss mit der Pistole. So jedenfalls glaubte sich Hocke zu entsinnen. Immerhin war dies humaner als die Vollstreckung im Irak, wo man die Delinquenten henkte und sie öffentlich mit einem Autokran in die Höhe zog. Hocke versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen. Doch stattdessen gab ihm seine innere Stimme zu bedenken, dass auch in den als freiheitlich gepriesenen Vereinigten Staaten von Amerika niemand davor gefeit sein konnte, auch hingerichtet zu werden. Und dort gab es von Bundesstaat zu Bundesstaat die unterschiedlichsten Methoden, jemanden von Staats wegen umzubringen. Dort geschah dies zwar nicht heimlich, sondern erinnerte eher an ein Medienspektakel. Doch wenn man die Art und Weise betrachtete, wie in den USA Prozesse geführt wurden, dann konnte man sich zumindest als Außenstehender des Eindrucks nicht erwehren, dass dort Geld, Macht und Einfluss über Leben und Tod entschieden und die Wahrheit gelegentlich weit weniger wog als finanzielle Interessen.
Hocke hatte bei all den Gedanken und den verstohlenen Blicken auf den Bildschirm einerseits und den Gästen andererseits gar nicht bemerkt, wie er seinen Teller leer gegessen hatte. »Once more coffee, Sir?«, hörte er plötzlich die Stimme des Kellners und lehnte ab. Er stand auf, ging zur Toilette, besah sein fahles Gesicht im Spiegel und verließ das Hotel. Auf dem hinterhofartigen Vorplatz warteten zwei Taxis auf Fahrgäste. Er entschied sich fürs hintere, weshalb der Chauffeur im vorderen zwar protestierte, doch Hocke wollte kein Risiko eingehen und verhindern, dass er in eine Falle tappte.
»Forbidden town, south entrance«, erklärte er, als er die Tür zuzog, und hoffte, dass ihn der alte Chinese hinterm Steuer verstand. Der lächelte zunächst, startete dann aber den Motor und ließ den Wagen auf die Straße hinausrollen. Hocke musste daran denken, dass die Taxifahrer in diesen Wochen bereits auf die diesjährige Olympiade vorbereitet wurden und Englisch lernen sollten. Man habe ihnen, so hatte ihm vor ein paar Tagen ein deutscher Geschäftsmann berichtet, Tonbandkassetten mit den wichtigsten Formulierungen ausgehändigt. Aber vermutlich machten sich die armen Chauffeure nicht die Mühe, die fremde Sprache zu lernen, sondern legten künftig einfach die Kassette ein und ließen die ausländischen Fahrgäste von einer Stimme aus dem Lautsprecher begrüßen.
Der Vormittag war sonnig, doch hatte Hocke bereits beim Blick aus dem Hotelfenster festgestellt, dass wieder dieser schwefelgelbe Smog über der Stadt hing. Sobald es windstill war, ballten sich die Abgase über der 16-Millionen-Stadt zusammen. Ein Problem, das offenbar die chinesische Regierung vor der Olympiade kleinzureden versuchte.
Kaum hatte das Taxi eine
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