Notbremse
dieser vielspurigen Magistralen erreicht, musste es sich mit diesem ewigen Stop-and-go-Verkehr vorwärts quälen. Wenn daheim in München oder in einer anderen großen Stadt noch mal jemand von einem Verkehrschaos sprach, bloß weil es sich vor einer Ampel mal 20 Minuten lang staute, dann würde er künftig nur noch müde lächeln können, dachte Hocke. Künftig, ja künftig, hämmerte es in seinem Kopf. Es würde eine Zukunft geben. Auch für ihn. Oder doch nicht? Wenn man ihn nicht umbrachte, würde man ihn am Flughafen aus der Touristenschlange herausfischen und ihm sagen, dass er nach Paragraf soundsoviel illegal eingereist sei. Und von chinesischen Gefängnissen hatte er Schreckliches gehört. Für einen Moment erwog er, sich an die deutsche Botschaft zu wenden, alles zu beichten, alles aufzudecken. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er der Fahrtstrecke überhaupt nicht folgen konnte. Aber das spielte in diesem Gewühl, in diesen gesichtslosen Straßen, die alle irgendwie gleich aussahen, weil sich überall ähnliche Büro- und Wohnhochhäuser türmten, ohnehin keine Rolle. Er war zwar vorgestern als Tourist auf dem Platz des Himmlischen Friedens und in der Verbotenen Stadt gewesen, aber allein hingefunden hätte er nicht mehr.
»You tourist?«, fragte der Fahrer völlig unerwartet, sodass Hocke erschrak.
»Yes«, erwiderte er entschlossen, worauf die Konversation bereits wieder beendet war.
In diesem Moment erkannte Hocke den alten Bahnhof, von dem er vorgestern in seinem Reiseführer gelesen hatte. Jetzt waren sie ganz dicht am Ziel. Und schon sah er rechts die breite Freifläche, die direkt zum Platz des Himmlischen Friedens führte, vorbei am Mausoleum Maos. Weil Weiterfahren hier verboten war, stoppte das Taxi. Der Fahrer deutete auf die Gebührenanzeige, worauf Hocke einige schlapprige Geldscheine aus der Innentasche seines Jacketts nahm und sie mit einem »Okay« dem Mann hinterm Steuer reichte. Dann stieg er aus und spürte die Sonne, die zwar diffus, aber dennoch heiß vom Himmel brannte. Er drehte sich ein paar Mal um, tat so, als interessiere er sich für die Gebäude und die Umgebung, doch in Wirklichkeit versuchte er, verdächtige Personen zu erspähen. In der wogenden Touristenmenge, die scheinbar völlig ungeordnet zum Platz strömte und von dort wieder zurückkam, entdeckte er niemanden, der ihm gefolgt sein könnte. Aber dies wäre bei den Tausenden von Menschen auch kaum herauszufinden gewesen.
Er reihte sich irgendwie ein, nahm den typischen Touristenschlendergang an und vergrub die Hände in den Taschen seiner Leinenjacke, die eigentlich viel zu warm war. Er ließ sie deshalb offen um sich herumflattern. Im Vorbeigehen besah er sich noch einmal das Mausoleum und das gewaltige Denkmal für alle Helden des Volkes, folgte dann der Menschenmenge zur Platzmitte, wo Touristenjäger Kinderdrachen anboten. Inmitten der Massen bildeten sich immer wieder kleine Gruppen, die um eine offizielle Fremdenführerin geschart waren, die ein Fähnchen oder einen Sonnenschirm hochhob, damit ihr keiner der Gäste verloren ging. Manche bedienten sich inzwischen tragbarer Verstärkeranlagen, um sich überhaupt noch Gehör verschaffen zu können. Links drüben die Große Halle des Volkes, ihr gegenüber die beiden Museen der Chinesischen Revolution und der Chinesischen Geschichte.
Hocke sah über die vieltausendköpfige Menschenmenge hinweg zum anderen Ende des Platzes, wo an der braunroten Mauer abseits des ›Tian’anmen‹, dem ›Tor des Himmlischen Friedens‹, ein überdimensionales Maoporträt prangte. Vom Balkon dieses Tores, das mit Drachen und Fabelwesen verziert war, hatte Mao Tse-tung am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China ausgerufen.
Das war auch jener Punkt, vor dem auf diesem gigantischen Platz professionelle Fotografen auf Touristen lauerten, um sie gruppenweise vor dem großen Maoporträt abzulichten und die Bilder später ins Hotel zu bringen. Allgegenwärtig waren auch hier die Ansichtskartenverkäufer, deren gesamtes Angebot sich wie eine Ziehharmonika auseinanderfalten ließ.
Hocke wehrte die lästigen Händler höflich, manchmal aber auch bestimmend und schließlich, wenn gar nichts mehr half, unwirsch ab. Er hasste es, dauernd zum Kauf irgendwelcher Dinge genötigt zu werden. Mancher historische oder anderweitig interessante Ort war ihm auf diese Weise schon vergällt worden. Doch egal, wo auf der Welt, es drehte sich halt alles nur um Handel und Geld. Und je größer die
Weitere Kostenlose Bücher