Notbremse
Menschenschlange verschwunden. Nur noch drei Wassersportler zogen ihre Bahnen. Wenn die Dämmerung vollends hereinbrach, wurde der Betrieb eingestellt. Markus hatte sich allerdings schon ein paar Mal Gedanken darüber gemacht, ob es nicht sinnvoll wäre, eine Flutlichtanlage zu installieren. Eines Tages würde er diese Idee ernsthaft vorantreiben.
Der Chinese holte tief Luft und schien die langsam einkehrende Ruhe zu genießen. »Wenn Sie Dubai kennen«, wandte er sich an Horschak, der als Einziger am Tisch keinen relaxten Eindruck machte, »dann sollten Sie auch mal nach Peking fliegen.«
»Peking?«, echote der Angesprochene. »Um ehrlich zu sein – und nehmen Sie’s mir nicht übel – aber das ist mir zu fremd. Eine Kultur, mit der ich mich bisher nicht befasst habe.«
Der Chinese zog einen erstaunten Gesichtsausdruck. »Es lohnt sich, sich mit der Kultur Chinas auseinanderzusetzen. China hat viele bedeutende Menschen hervorgebracht.« Er bemühte sich um astreines Deutsch, tat sich jedoch mit der Aussprache schwer.
Horschak überlegte, ob er etwas Provozierendes sagen sollte. Er wagte es: »Und auch umgebracht«, entgegnete er prompt, worauf Markus und Sabine gespannt auf eine Reaktion warteten. »1989«, fügte Horschak noch an.
Der Chinese lächelte. »Es ist die Eigenart des Westens, den anderen immer Vorhaltungen zu machen – sagt man so, Vorhaltungen?«
Sabine nickte freundlich und strich sich über die Knie.
»Panzer gegen Studenten«, gab Horschak ein weiteres Stichwort. Er hatte Gefallen daran gefunden, den Chinesen zu provozieren. Nirgendwo sonst hätte er dies tun können. Aber hier, in der Abgeschiedenheit der oberbayrischen Berge, sozusagen im Kreise von Freunden, war dies erlaubt. Und Rieder hatte es schließlich vorgezogen, zur Tour de France zu reisen, anstatt sich dem Problem zu stellen. Mit jedem Schluck, den Horschak nahm, fühlte er sich besser. Obwohl er wusste, dass Alkohol die Probleme nicht beseitigte, sondern nur verdrängte und sie am Morgen danach umso mächtiger wieder in Erscheinung traten. Ein Teufelskreis. Deshalb mied er es normalerweise, Alkohol zu trinken. Aber es gab eben Momente wie den jetzigen, da warf er seine Vorsätze über Bord. In jüngster Zeit immer häufiger, gestand er sich ein.
Der Chinese nahm die Attacke gelassen. »Innere Angelegenheiten eines Staates lassen sich von außen nur schwer beurteilen. Denken Sie an die USA. Selbst in Deutschland gibt es inzwischen Kritik an manchem, was dort geschieht.«
Horschak wollte nicht widersprechen. »Aber die USA sind ein freiheitliches Land – das wollen Sie doch nicht bestreiten?«
»Freiheitlich«, wiederholte Ongu, »was man halt so darunter verstehen mag. Im Vordergrund steht das Kapital – und sonst nichts.«
»Geld regiert die Welt«, räumte Horschak ein. »Das sehen Sie doch selbst. Was wäre China ohne das internationale Kapital?«
Markus nickte eifrig und verfolgte das Gespräch interessiert.
Dem Chinesen machte es sichtlich Freude, die Diskussion weiterzuführen. »Behaupten Sie doch bitte nicht, die ausländischen Firmen kämen ganz uneigennützig nach China. Es sind die niedrigen Arbeitslöhne, die sie anlocken – und der globale Versuch, ein kommunistisches Land zu kapitalisieren, wenn man das mal so sagen darf.«
Jetzt sah Markus als Betriebswirtschaftler die Chance zum Eingreifen gekommen: »Aber offenbar ist doch auch China daran gelegen, Handelsbeziehungen auszubauen.«
»Natürlich. Deshalb bin ich in Europa unterwegs«, erklärte Lio Ongu, nahm einen Schluck und fügte an:. »Handelsbeziehungen auf der Basis gleichberechtigter Partnerschaft.«
Sabine versuchte, dem Gespräch die Schärfe zu nehmen: »Bei der Olympiade wird Ihr Land Gelegenheit haben, sich der Welt zu präsentieren.«
Der Chinese nickte und lächelte. »Ich bin davon überzeugt, dass uns die Welt danach mit ganz anderen Augen sehen wird. Wir sind ein modernes, aufstrebendes Volk mit einer langen Geschichte.«
Horschak hätte gern noch gesagt, dass der ganze Nachholbedarf, der sich jetzt explosionsartig bemerkbar machte, die Folge der kommunistischen Herrschaft war. Und dass in diesem Landstrich ein Mann wie Gorbatschow fehlte, der die Weichen in eine neue Zukunft stellen könnte.
Doch sein Interesse galt plötzlich etwas anderem: Den beiden Personen, die sich drüben aus der nur schemenhaft beleuchteten Menschengruppe am Starthäuschen gelöst hatten und nun hinter der Boutique verschwanden, um sich vom See zu
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