Notbremse
nach kurzer Wegstrecke musste er scharf in die Senke abbiegen. Vorbei an einem kleinen See, führte ihn das schmale Sträßchen in einigen Bögen auf die Wasserskiliftanlage zu, wo der Kriminalist bereits von Weitem die im Sonnenlicht blitzenden Autos stehen sah. Wasser zieht die Menschen an, dachte er. Unweigerlich fiel ihm ein anderer Spruch ein: ›Wasser ist Leben‹. Er ließ den Audi an der Boutique vorbeirollen, wo jede Menge froh gelaunte Menschen standen und miteinander plauderten. Abseits der Pizzeria, die das obere Ufer des Baggersees begrenzte, entdeckte Häberle eine sandige und geschotterte Abstellfläche, auf der es noch freie Parkplätze gab.
Er spürte die aufkommende Hitze des Julitages und ärgerte sich, dass er heut früh sein Jeanshemd angezogen hatte. Es war zwar kurzärmlig, aber er war trotzdem zu warm angezogen. Er stieg aus und verriegelte die Tür. Er hatte sich vorgenommen, den relaxten Touristen zu spielen, der sich für Wassersport interessierte. Dass er hier auf der Heimfahrt noch kurz Station machte, hatte eigentlich nur den einen Grund, sich von diesem Ort ein Bild zu verschaffen, mit dem immerhin einige Personen seines Falles verbunden waren. ›Pferdchen‹ hatte davon berichtet, dass Rieder seine Mitarbeiter gern hierher einlud. Sie selbst war erst dieser Tage dort gewesen, und auch dieser Berliner namens Probost hatte sich kürzlich offenbar hier herumgetrieben. Häberle hoffte, dass ihn niemand kannte. Er ging die paar Schritte an den lang gezogenen See, auf dem die Skifahrer mithilfe der Liftanlage ihre Runden drehten. Nie zuvor hatte er eine solche Technik gesehen, die absolut umweltfreundlich, weil mit Elektromotor getrieben, eine Sportart ermöglichte, die er bisher mit knatternden Motorbooten in Verbindung gebracht hatte.
Häberle setzte seine Sonnenbrille auf und prägte sich die Umgebung ein. Rechts von ihm, in der Boutique, war immer noch viel los. Offenbar hatte für die Wassersportler aus dem Großraum München schon am Freitagmittag das Wochenende begonnen. Viele schienen keine eigene Ausrüstung fürs Wasserskifahren oder Wakeboarden zu besitzen und liehen sich deshalb Neoprenanzug, Schwimmweste sowie Skier oder Wakeboard aus.
Für einen Moment überlegte Häberle, ob er es auch mal versuchen sollte. Aber vermutlich würde er zur Erheiterung all derer, die gleich neben der Startrampe auf der Terrasse des Bistros saßen, schon nach wenigen Metern ins Wasser plumpsen. Die durchschnittliche Altersstruktur, so stellte er mit einem Blick auf die Schlange stehenden Menschen fest, lag doch ein bis zwei Jahrzehnte unter seinem Alter. Doch als Judokatrainer fühlte er sich immerhin sportlich genug, um in manchen Bereichen noch mithalten zu können.
Er näherte sich langsam der Boutique, durch deren große Fensterfront das gesamte Angebot für Wassersport zu sehen war, einschließlich allem, was derzeit trendy war. Häberle konnte nicht verstehen, dass auch Sportkleidung einem modischen Trend unterworfen war. Seine Generation war froh gewesen, sich überhaupt etwas Zweckmäßiges leisten zu können, wenn es um Freizeitsport ging. Doch heutzutage, so fiel ihm ein, weigerten sich bereits Kinder, Turnschuhe anzuziehen, die nicht gerade ›in‹ waren. So leicht ließ sich eine Gesellschaft manipulieren. Das war 1968 anders gewesen, als man nach San Francisco reiste und sich Blumen ins Haar steckte. Häberle seufzte in sich hinein. Er war damals nicht dort gewesen. Schade. Später hatte er sich vorgenommen, Kalifornien wenigstens als Pauschaltourist zu bereisen. Doch bis heute war nichts daraus geworden. Wieder einmal fühlte er sich bei dem Gedanken an unerfüllte Träume in ein System gezwängt, das ihn seiner Freiheit beraubte. Natürlich konnte jeder aussteigen und in seine eigene Welt flüchten – doch war dies mit so vielen Kanten und Ösen verbunden, vor allem aber mit nachhaltigen Folgen, die derlei Abenteuer zu einem risikoreichen Unternehmen machten. Es sei denn, man verzichtete auf diese vermeintliche Sicherheit, die jedoch meist auch nur auf dem Papier existierte. Seit sie in Berlin begonnen hatten, den Sozialstaat zu demontieren, gab es ohnehin keine Verlässlichkeit mehr. Warum also, schoss es Häberle durch den Kopf, sollte man nicht den Schritt wagen, den schon viele getan hatten, die heute glückselig in Australien lebten. Aber in seinem Alter, pfiff ihn eine innere Stimme zurück, wäre es vermutlich sehr schwer, irgendwo neu Fuß zu fassen. Andererseits
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