Notbremse
um noch einmal jeden einzelnen Buchstaben zu studieren. »Das wird die Welt interessieren«, las er laut vor. »Wieso soll das die Welt interessieren? Wenn’s jemand interessiert, dann doch nur uns, oder?«
»Aber wir sollen uns den Rieder anschauen«, zitierte Fludium weiter.
»Das werden wir ohnehin tun. Wenn du mich fragst, mir war der Kerl von Anfang an suspekt. Ein aalglatter Bursche.«
»Aber dieser Horschak«, gab der Ältere zu bedenken, »der scheint mir jetzt ebenso interessant zu sein.«
»Wir werden uns um den Kerl kümmern müssen«, meinte Linkohr, der inzwischen die Auflistung der Telefonverbindungen gefunden und den Namen ›Horschak‹ entdeckt hatte. Er legte den Schnellhefter obenauf und wandte sich einer ausgedruckten E-Mail zu. Es waren die Erläuterungen der Stuttgarter Chemiespezialisten zu den im Koffer vorgefundenen Dokumenten. »Lies dir das mal durch. Fachchinesisch vom Feinsten.«
Fludium setzte sich neben seinen Kollegen, um die Erläuterungen zu studieren. »Verstehst du das?«, fragte er schon nach zehn Zeilen.
»Wie die Jungs aus dem Labor da schreiben, geht’s um irgendwelche aufputschenden Substanzen«, erklärte Linkohr. Er beugte sich zu Fludium und las vor: Stimulanzien, Narkotika, anabole Steroide, Betablocker, Diuretika, Peptidhormone, Epo und so weiter.«
»Das sind doch Dopingmittel!«
»Lies weiter. Die Jungs haben auf Seite zwei aufgelistet, wofür das gut sein soll. Betablocker, das hab ich auch nicht gewusst, senken doch eigentlich die Herzfrequenz, werden aber wohl beim Golfen und Schießen verwendet.«
»Für eine ruhige Hand«, meinte Fludium.
»Vermutlich, ja. Aber diese anabolen Steroide, wenn du weiterliest, wirst du das sehen – das beeinflusst den Muskelaufbau.«
»Weißt du, was mir da einfällt?«, schaute der ältere Kriminalist erstaunt auf. »Steht nicht irgendwo in den Akten, dass der Rieder, der Chef von diesem Pharmakonzern, an diesem Wochenende zur Tour de France wollte?«
Linkohr schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Natürlich, klar doch. Und jetzt will uns irgendjemand – wer auch immer – darauf hinweisen, dass der Rieder ein Drecksding dreht.«
»Steht auch irgendwo, was das für chemische Substanzen in diesen Fläschchen waren?«, hakte Fludium nach und überflog den E-Mail-Text.
»Nein, so weit sind sie wohl noch nicht. Aber sie gehen davon aus, dass es sich entweder um die genannten Mittel handelt oder dass es Produkte sind, aus denen sie hergestellt werden.«
Fludium sprang auf. »Wenn dieser Horschak so ein Zeug mit sich rumschleppt, stellt sich aber doch die Frage, wer ihm den Koffer abgenommen hat.«
»Erstens das«, stimmte Linkohr zu, »und zweitens gibt mir jetzt noch etwas ganz anderes zu denken.« Er legte eine vielsagende Pause ein.
»Und das wäre?«
»Denk an die seltsamen Verbindungen zu China. An den dubiosen Anruf – und an die in Italien angemeldeten Handys eines Chinesen.«
»Du meinst …?« Fludium zögerte. Doch Linkohr gab ihm die Antwort: »Peking 2008. Olympiade. Und was braucht ein Leistungssportler heutzutage, um erfolgreich zu sein?« Er grinste.
Fludium wurde ernst. »Die Radler haben’s vorgemacht, stimmt’s?«
»Mir scheint, wir sind einer internationalen Gaunerei auf der Spur. Am besten, ich ruf mal den Chef an.«
Häberle hatte gerade die große Brennerbrücke passiert, als ihn Linkohr erreichte und über die jüngste Entwicklung informierte. »Und wenn Horschak der Tote aus dem ICE ist?«, hakte er schließlich nach, während er sich in die Lkw-Kolonne einreihte, um konzentrierter sprechen zu können.
»Das glaub ich nicht. Der Horschak hat mit der ›Donau Pharma AG‹ telefoniert, als der ICE bereits über zehn Minuten stand.«
»Okay«, überlegte Häberle. »Findet raus, wo der Rieder ist. Falls er tatsächlich abgetaucht ist, zur Tour de France oder wohin auch immer, dann soll ihn der Ziegler zur Fahndung ausschreiben lassen.« Der Leitende Oberstaatsanwalt in Ulm, davon war der Chefermittler überzeugt, würde dies ohne zu zögern tun.
Häberle wünschte den Kollegen der Sonderkommission bei ihren umfangreichen Ermittlungen, die für den heutigen Freitag anstanden, viel Erfolg und beendete das Gespräch.
Knapp eine halbe Stunde später erreichte er die Ausfahrt Kiefersfelden und verließ die Autobahn. Das Navigationsgerät zeigte zwar den Hödenauer See nicht an, dafür aber entdeckte er auf der Fahrt zur nahen Stadt ein Hinweisschild, das nach rechts zeigte. Schon
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