Notbremse
Kollegen vor und fragte, ob sie »den Chef« sprechen könnten. »Kurze dienstliche Sache«, fügte Häberle noch an, nachdem die Ältere ihn einigermaßen überrascht angesehen hatte. Unterdessen war die Jüngere bereits in einem Seitengang verschwunden, um den Arzt von den Besuchern zu unterrichten.
»Er hat noch einen Patienten«, kam sie zurück und schlug den Kriminalisten vor, im Wartezimmer Platz zu nehmen.
Wenige Minuten später bereits wurden sie wie Patienten aufgerufen und in das Sprechzimmer geführt. Mirka, ein kräftiger Mann mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, schüttelte den beiden Kriminalisten die Hände und bot ihnen Plätze an. Erst jetzt bemerkte Häberle eine zierliche, schlanke Frau im weißen Arztkittel, die sich schüchtern im Hintergrund hielt. »Meine junge Kollegin Gracia«, stellte sie Mirka mit leicht osteuropäischem Akzent vor. »Sie kommt aus Sofia und macht ein Praktikum bei mir.« Gracia lächelte und setzte sich neben den leger gekleideten Mediziner, der gespannt darauf wartete, was die beiden Kriminalisten von ihm wollten. »Ich denke nicht, dass Sie als Patienten gekommen sind«, begann er das Gespräch, um scherzhaft auf seine Fachrichtung anspielend hinzuzufügen: »Oder ist es Ihnen vielleicht nicht wohl in Ihrer Haut?«
Häberle grinste. Er hatte während seiner Berufslaufbahn schon viele Ärzte kennengelernt, aber dieser hier schien nicht zu jener Sorte zu zählen, die sich als Halbgötter verstanden. Vermutlich war Mirka auch ein Praktiker wie er, einer, der ein Leben lang Erfahrungen gesammelt hatte und nicht durch Arroganz glänzen musste.
»Sie haben es sicher schon gehört, was auf der Steige geschehen ist«, kam er gleich zur Sache und erklärte in kurzen Worten, worum es ging. »Wir kommen zu Ihnen, weil der unbekannte Tote einen Notizblock bei sich hatte, auf dem unzählige Telefonnummern von Ärzten und Apotheken standen. Und eine davon ist auch die Ihre.«
Mirka nahm es gelassen. Sein freundlicher Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Und jetzt meinen Sie, ich hätt’ den armen Kerl erschossen?«, fragte er spitzbübisch. »Vielleicht mit einer Kalaschnikow aus dem Schreibtisch.«
Gracia verstand offenbar nicht alles. Sie verfolgte das Geschehen mit ihren dunklen Augen.
Häberle verschränkte die Arme vor dem engen Hemd und war von der entspannten Atmosphäre angetan. »So einfach haben wir uns den Fall vorgestellt«, gab er ebenso spontan zurück. »Nein«, kam er dann zur Sache, »uns würd’ nur interessieren, ob Sie sich vorstellen können, wer der Mann sein könnte, der Ihre Telefonnummer mit sich getragen hat.«
Mirka zuckte mit den breiten Schultern. »Das tut mir leid, aber meine Patienten kommen von weit her.« Wieder lächelte er. »Sie mögen mich eben.« Dann fügte er hinzu: »Aber vielleicht mögen sie neuerdings lieber Gracia.« Er schielte zu der jungen Frau hinüber, die dem Gespräch mühsam folgte. »Einen Namen haben Sie nicht?«
»Nein, bisher nicht. Aber wir haben uns gedacht, ob Sie nicht mal einen Blick auf den Toten werfen könnten.« Häberle griff in die Brusttasche seines Jeanshemds und zog den zusammengelegten Papierausdruck eines Fotos heraus, das den Kopf des Erschossenen zeigte. Er faltete das Papier auseinander und strich es auf der dunklen Schreibtischplatte vor Mirka glatt.
Der Arzt nahm es in die Hand und besah das Gesicht, dessen Augen geschlossen waren. Nach ein paar Sekunden schüttelte er langsam den Kopf. »Im Moment fällt mir nichts dazu ein.« Er forderte die junge Frau mit einer Handbewegung auf, sich das Foto ebenfalls anzusehen. »Was meinst du, kennen wir den?« Gracia riskierte nur einen flüchtigen Blick, als wolle sie keine Toten sehen. »Nein, nicht. Glaube nicht«, sagte sie schnell. Offenbar tat sie sich mit der deutschen Sprache schwer.
»Es muss ja nicht unbedingt ein Patient gewesen sein«, wandte Linkohr ein und suchte Blickkontakt zu der kleinen Schweigsamen. Doch die schien es nicht zu merken.
Mirka nahm den Hinweis zum Anlass, sich das Foto noch einmal näher zu betrachten.
»Und woran denken Sie?«
»Na ja«, erklärte der junge Kriminalist selbstbewusst, »vielleicht jemand, mit dem Sie anderweitig zu tun haben.«
Der Arzt legte das bedruckte Papier wieder weg und wirkte irritiert. »Anderweitig?« Seine Stimme klang plötzlich belegt, weshalb Häberle in das Gespräch eingriff: »Mein Kollege meint, dass es auch ein Handwerker sein könnte, der hier vielleicht mal etwas
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