Notbremse
reparieren musste. Oder jemand von einem Lieferservice.« Der Chefermittler unterbrach abrupt seine Aufzählung, denn er musste sich eingestehen, dass ihm auch bessere Beispiele hätten einfallen können.
»Tut mir leid«, erwiderte Mirka ernst, »aber ich seh täglich so viele Menschen, da kann ich mir Gesichter von einzelnen Menschen nicht merken, die nur mal kurz hier auftauchen. Sie können aber gern noch mein Personal fragen.«
Häberle nickte und überlegte, ob er dazu etwas sagen sollte. Dann entschied er sich, das Thema zu wechseln. Er setzte sein sympathisches Lächeln auf und sah den knapp über 60-jährigen Mediziner und seine junge Assistentin nacheinander an. »Und wie läuft es mit der Gesundheitsreform?«
Mirka holte tief Luft. »Soll ich es Ihnen ehrlich sagen?« Er wartete gar keine Antwort ab, sondern gab sie selbst: »Beschissen. Die Bürokratie erschlägt uns.«
Häberle hatte gar nichts anderes erwartet. Ein Leben lang bereits kämpfte er gegen den alles lähmenden Bürokratismus. Doch längst hatte er aufgehört, an die Versprechungen der Politiker zu glauben, sie würden diesen Moloch stoppen. Das Gegenteil war der Fall. Die Papierflut hatte sich von den Behörden in die freie Wirtschaft ergossen und hemmte jegliches Räderwerk und jegliches Engagement. Millionen von Menschen, davon war Häberle zutiefst überzeugt, taten jahrein, jahraus nichts anderes, als mit unsinniger und damit unproduktiver Arbeit die Zeit totzuschlagen – oder, noch schlimmer, andere daran zu hindern, innovative Ideen umzusetzen.
»Was die in Berlin unter Reform verstehen, hat nichts weiter als die Verwaltungen aufgebläht«, fuhr Mirka fort, als habe er Häberles Gedanken erraten. »Sie können jeden meiner Kollegen fragen – wir sind nur noch mit Papierkram beschäftigt. Formulare über Formulare.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber solange der Patient glaubt, was ihm die Politiker vormachen – was soll sich da schon ändern? Wissen Sie, meine Herren, ich hab meinen Beruf ergriffen, um den Menschen zu helfen, nicht um im Büro zu sitzen und die Zeit mit Papieren zu vergeuden.«
Häberle sah es auch so. Er konnte den Doktor sehr gut verstehen. »Und verschreiben dürfen Sie auch nicht mehr alles?«
»Natürlich nicht«, gab Mirka zurück, »was soll ich Ihnen sagen? Das System ist derart kompliziert geworden, da müsste ich Ihnen einen ausführlichen Vortrag halten. Budgetierung und so. Natürlich macht es keinen Sinn, teure Medikamente zu verschreiben, wenn es auch günstigere gibt. Aber das können Sie auch ohne den Papierkram regeln.«
»Vergessen Sie die Lobby nicht«, wandte Häberle ein. »Den Einfluss der Pharmaindustrie darf man nicht unterschätzen.«
Über Mirkas Gesicht huschte ein Lächeln. »Alle wollen Geld verdienen, egal wie«, meinte er, »oder glauben Sie im Ernst, in Deutschland sei das anders als anderswo?«
Nein, das glaubte Häberle schon lange nicht mehr. Wie oft hatte er sich schon überlegt, weshalb der Kassenpatient nicht erfahren durfte, welche Leistungen ein Arzt mit der Krankenkasse abrechnete? Da war doch dem Schwindel Tür und Tor geöffnet. Ihm wollte nicht in den Kopf, dass es keine Kontrolle gab. Das wäre genau so, wie wenn man einem Handwerker blindlings Geld geben würde, ohne den Nachweis zu haben, welche Arbeiten er ausgeführt hatte. Aber mit diesem Argument, das wusste der Kriminalist, war er schon in vielen Gesprächen mit Politikern auf Granit gestoßen. Da half dann auch sein Hinweis nicht, dass privat Versicherte die Honorarrechnung des Arztes vorgelegt bekämen und gegebenenfalls reklamieren könnten. Häberle musste an einen Bekannten denken, der sich mal mit einem Zahnarzt angelegt hatte, weil auf der Rechnung eine nie verabreichte Spritze aufgeführt war. Der Mediziner war von dieser Reklamation nicht sehr erbaut gewesen.
Mirka hingegen machte auf den Chefermittler den Eindruck, nicht das Dollarzeichen im Auge zu haben, sondern das Wohl seiner Patienten. Er wirkte gelassen und ausgeglichen und schien alle Widrigkeiten an sich vorbeigleiten zu lassen.
»Ihre junge Kollegin«, fuhr Häberle nach einer kurzen Pause fort, »wird sich im Zeitalter der EU auch in ihrer Heimat mit solchen Problemen rumschlagen müssen.«
Gracia hatte nur einen Teil davon verstanden, weshalb sie wieder vielsagend lächelte.
»Gracia wird es nicht leicht haben«, stellte Mirka fest und sah sie von der Seite an, »aber Probleme hat’s zu jeder Zeit gegeben. Vielleicht kommt sie
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