Notbremse
Daneben war ein Bild von einem Teil des Zugs neben dem Stationsschild ›Geislingen (Steige)‹ zu sehen. ›Ein bislang unbekannter Mann wurde heute Vormittag im Intercity München–Dortmund erschossen‹, las sie den knappen Text. ›Die Bluttat ereignete sich vermutlich auf der Geislinger Steige. Dort war die Notbremse gezogen worden und ein Fahrgast aus dem Zug geflüchtet. Bei der Weiterfahrt entdeckten Passagiere den Erschossenen in einem Abteil der ersten Klasse. Der ICE hielt daraufhin in Geislingen (Kreis Göppingen) an, wo mehrere Hundert Reisende vernommen wurden. Wegen der Spurensicherung kommt es zwischen Ulm und Stuttgart zu erheblichen Verspätungen im Zugverkehr.‹ Sylvia las den Text gleich noch ein zweites Mal. Ihr Pulsschlag hatte sich beschleunigt.
Konstantin Rieder hatte unterdessen an seinem Handy einige Tasten gedrückt und sich an die große Fensterfront gestellt, die den Blick über die Flachdächer der benachbarten Firmenkomplexe freigab. Die Sonne schien schräg in das mit weißen Möbeln ausgestattete und steril wirkende Büro herein. Seine kurzen schwarzen Haare, die eine Stirnglatze umgaben, glänzten schweißnass. Er lauschte gespannt und gereizt auf das Freizeichen. Doch erst nach dem achten Mal meldete sich eine unpersönliche Frauenstimme, die ihm erklärte, dass er die Nummer soundso gewählt habe, der gewünschte Gesprächspartner aber im Moment leider nicht zu erreichen sei. Von dem Angebot, etwas auf die Mailbox zu sprechen, machte Rieder keinen Gebrauch. Er drückte die Austaste, schaltete das Gerät komplett ab und steckte es in sein Anzugsjackett, das an der Garderobe hing.
Für einen Moment blieb er stehen, sah zum Fenster hinüber und überlegte, ob er noch einen Anruf tätigen sollte. Ihm war heiß und er bemerkte, dass es ihm schwerfiel, sich auf etwas zu konzentrieren. Langsam ging er die paar Schritte zu seinem Schreibtisch, nahm den Hörer des Telefons und drückte einige Tasten. Auch hier musste er lange warten.
»Und?«, fragte er knapp, ohne seinen Namen genannt zu haben. Es klang auch weniger wie eine Frage als vielmehr nach einer militärisch knappen Aufforderung, sofort Meldung zu erstatten.
Während er angestrengt lauschte, ließ er sich in seinen Chefsessel sinken und atmete tief durch.
»Okay, danke, ja«, erwiderte er und legte grußlos auf.
Drei, vier Atemzüge lang blieb er sitzen, ging dann zur Vorzimmertür und öffnete sie weitaus weniger dynamisch, als dies Sylvia Ringeltaube gewohnt war. Sie drehte sich überrascht zu ihm um und klickte gleichzeitig eine Internetseite weg.
»Ich bin ab sofort heute für niemanden mehr zu sprechen«, erklärte Rieder und fügte eine Spur energischer hinzu: »Für niemanden. Egal, wer anruft. Sag, ich sei kurzfristig verreist.«
Sylvia nickte, als wüsste sie, was ihren Chef zu dieser Entscheidung bewogen hatte. Es wäre ohnehin zwecklos gewesen, nachzufragen.
Häberle war mit Linkohr im weißen Dienstaudi aufs Parkdeck ›Sonne-Center‹ gefahren. Dass er dort eine Parkkarte ziehen musste, nahm er zähneknirschend zur Kenntnis. Sein ortskundiger Kollege hatte ihm empfohlen, ins Parkhaus des nahen ›Kauflands‹ zu fahren, wo man zwei Stunden kostenlos parken durfte. Doch obwohl Häberle stets darauf bedacht war, unnötige Ausgaben zu vermeiden, erschien es ihm heute wichtiger zu sein, möglichst rasch die Ermittlungen einzuleiten, anstatt lange Fußmärsche in Kauf zu nehmen. Ihr Ziel war die Hautarztpraxis, deren Zugang sich direkt auf dem Parkdeck befand.
»Kennen Sie den?«, fragte Häberle und meinte damit den Mediziner, dessen Telefonnummer sie auf dem Notizblock des Toten gefunden hatten.
»Nur vom Hörensagen«, erwiderte Linkohr, während sie in sengender Mittagssonne an den geparkten Autos vorbei zu der Eingangstür eilten. »Soll ein ganz sympathischer Typ sein, stammt aus Bulgarien, ist aber schon ewig hier.«
›Dr. Iwanov Mirka‹, stand in weißen Buchstaben auf einer dieser schwarzen Steckvorrichtungen, auf denen Ärzte für gewöhnlich ihre Sprechzeiten bekannt gaben. Bis 14 Uhr, das hatte Häberle bereits dem Telefonbuch entnommen, dauerte Mirkas Mittagspause. Jetzt war es fünf Minuten später. Der Chefermittler hoffte, dass der Arzt pünktlich war.
Am Empfang im ersten Obergeschoss wurden sie von zwei freundlichen Damen mit Kurzhaarschnitt begrüßt. Häberle sah einige Personen im Wartezimmer sitzen. Er dämpfte seine Stimme, um kein Aufsehen zu erregen, stellte sich und seinen
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