Notbremse
darüber Bescheid, dass er sich gelegentlich in diesem Hotel aufhielt. Er versuchte, diese Gedanken zu verdrängen und zu schlafen. Doch eine innere Stimme hielt ihn davon ab. Als er vom Nebenbalkon ein Geräusch hörte, schreckte er auf. Es hatte geklungen, als entsichere jemand eine Waffe. Aber vermutlich hatte nur jemand mit einer Gürtelschnalle hantiert.
Kaum hatte er seine innere Stimme beruhigt, meldete sie sich wieder. Denn dass sein Aktenkoffer weg war, wog beinahe noch schlimmer als die Angst um sein Leben. Schon bei der Herfahrt hatte er nachzuvollziehen versucht, welche Dokumente nun verloren oder – noch schlimmer – in fremde Hände geraten waren. Vermutlich befasste sich bereits die Polizei damit. Oberstes Gebot war es zwar seit jeher gewesen, nichts darin zu transportieren, was auf Namen, Adressen oder Telefonnummern hindeuten könnte. Das hatte er in diesem Job schon frühzeitig gelernt. Aber wer konnte denn wissen, welche Rückschlüsse die Kriminalisten ziehen würden? Manchmal, das wusste man doch von großen Kriminalfällen, konnte es eine Kleinigkeit sein, die zum Täter führte.
Täter – schoss es ihm durch den Kopf. Wie konnte ihm sein Unterbewusstsein überhaupt diesen Begriff präsentieren? Täter. Er blinzelte gegen die Sonne und hatte plötzlich das Bedürfnis, weit fort zu sein. Dort, wo er einen neuen Anfang machen konnte. Aber so einfach war das nicht. Er würde Frau und Kinder niemals im Stich lassen. Doch womöglich, so meldete sich wieder diese bohrende Stimme, kam die Zeit und er musste sie zurücklassen. Weil sie ihn umbrachten. Oder einsperrten. Ihn überkam das panische Gefühl, als gäbe es nur diese beiden Möglichkeiten. Sterben oder Gefängnis.
Jetzt brauchte er erst einmal ein Weißbier.
»Du, ich kann heut Abend nicht«, flüsterte Sylvia Ringeltaube in ihr Handy. Sie hatte sich in eine Kabine der Damentoilette eingeschlossen und sich vergewissert, dass in keinem der Nebenräume jemand war.
»Wieso das denn?«, wurde sie von der energischen Männerstimme abrupt unterbrochen, noch ehe sie eine weitere Erklärung abgeben konnte. Ihr Gesprächspartner schien unter Stress zu stehen.
»Ich muss nach Kiefersfelden – Auftrag vom Chef«, erklärte sie und wünschte sich inständig, dass es zu keiner längeren Diskussion kam.
»Nach Kiefersfelden …?«, echote der Mann jetzt auch im Flüsterton. »Was hat das denn zu bedeuten?«
»Horschak ist dort. Ich hab keine Ahnung, was los ist.«
»Moment, ich muss mal rausgehen«, kam es zurück. Die Aufmerksamkeit des Angerufenen stieg. Er war offenbar gerade in einer Konferenz.
Sylvia wartete ungeduldig.
»Was tut der jetzt in Kiefersfelden?«, hörte sie endlich die Stimme wieder.
»Frag mich nicht«, gab Sylvia genervt zurück. »Aber vielleicht hängt es mit der Sache im Zug zusammen – von heut früh.«
»Hat jemand was dazu gesagt?«
»Nein, natürlich nicht. Es hat nur geheißen …« Sie brach ab. Denn jemand hatte die Tür zur Damentoilette geöffnet. Sylvia drückte die Austaste und schaltete das Gerät ab. Sie wollte vermeiden, dass der Mann zurückrief. Während jemand in die Nebenkabine ging, betätigte sie die Spülung und tat so, als ordne sie ihre Kleider. Sie schloss die Kabine auf, wusch die Hände und verließ die Toilette mit innerer Unruhe. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie in etwas Schreckliches hineingeraten war.
10
Lokaljournalist Georg Sander hatte die Pressekonferenz im Schulungsraum der Feuerwehr mit Spannung erwartet. Im Laufe des Mittags war er immerhin mit einigen Passagieren aus dem ICE ins Gespräch gekommen. Sie hatten ihm geschildert, was auf der Geislinger Steige geschehen war – vor allem natürlich, dass ein Mann in den Steilhang geflüchtet war.
Dr. Wolfgang Ziegler, der Leitende Oberstaatsanwalt aus Ulm, kam vor den knapp 20 Journalisten schnell auf den Punkt:
»Es ist uns trotz allergrößter Anstrengungen bis jetzt nicht gelungen, die getötete Person zu identifizieren. Das mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, aber der Mann war tatsächlich ohne persönliche Papiere unterwegs.« Häberle, der zwischen dem Juristen und Pressesprecher Uli Stock Platz genommen hatte, nickte und blickte in die Runde. Er sah vertraute Gesichter, aber auch wieder einige neue Volontäre von privaten Radiostationen. Insgeheim machte er sich deshalb auf Fragen gefasst, die nicht gerade von Sachverstand geprägt sein würden. Als ihm der Staatsanwalt das Wort erteilte, hieß Häberle
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