Notbremse
schusssicheren Scheibe führte ein kurzes Telefonat und ließ den deutschen Kommissar durch eine zweite Tür in ein Foyer treten. Wenig später wurde er von einer schwarzhaarigen Schönheit abgeholt, die ihn Po-wackelnd und selbstbewusst über Treppen und Flure in den Gebäudetrakt der Staatsanwaltschaft führte und ihm in einem Besprechungszimmer Platz anbot. Häberle bedankte sich bei der charmanten Südtirolerin, die mit einem »gerne gescheh’n«, das ihre sprachliche Abstammung verriet, den Raum verließ. Häberle setzte sich an dem runden Glastisch in einen bequemen Besucherstuhl und besah sich die an der gegenüberliegenden Wand hängenden drei Aquarellgemälde, die Südtiroler Landschaften zeigten.
Es vergingen keine zwei Minuten, da erschien Cuno Marusso: ein großer Mann mit rundlichem Gesicht und einem Kinnbart. »Guten Tag, Herr Kommissar«, lächelte er, schüttelte dem aufgestandenen Häberle freundschaftlich die Hand und bat ihn sogleich, Platz zu behalten. Marusso legte einen dünnen Schnellhefter auf die Glasplatte, setzte sich schräg neben den deutschen Chefermittler und öffnete sein Jackett. Es war schwül in dem Raum, durch dessen Fensterfront die späte Nachmittagssonne schien. Häberle entschuldigte sich für sein verspätetes Eintreffen und erläuterte noch einmal den Sachverhalt, der dem Leitenden Oberstaatsanwalt von Bozen jedoch bereits von den Kollegen der Sonderkommission in einer kurzen Mail mitgeteilt worden war.
»Ich habe gelesen, was mir Ihre Kollegen geschickt haben«, bestätigte Marusso, der seinen Südtiroler Dialekt nicht verbergen konnte. »Ihnen geht es also um diese Frau Ringeltaube, die angeblich in Lana droben gemeldet ist – und um einen Chinesen in Naturns.«
Häberle nickte und war zufrieden, dass Südtirols oberster Ankläger so schnell auf seine Anfrage reagiert hatte. Das schien schneller zu gehen, als zwischen manchen Landeskriminalämtern in Deutschland.
»Wir haben berechtigte Sorge, dass der Frau Ringeltaube etwas zugestoßen sein könnte«, erklärte Häberle und verschränkte die Arme vor seiner voluminösen Brust.
»Wir haben eine Polizeistreife an die angegebene Adresse entsandt«, erwiderte Marusso und kratzte sich am weißen Kinnbart. »Aber die Dame ist nicht zu erreichen. Sie ist hier auch nicht gemeldet.«
»Und gibt es Erkenntnisse zu dem Chinesen?«
Marusso holte tief Luft. »Er ist bei den Behörden gemeldet, das stimmt. Er soll bei einer chemischen Firma in Meran beschäftigt sein. Er heißt …« Der Staatsanwalt blätterte in seinem Schnellhefter. »Hier steht’s. Er heißt Lio Ongu.«
Häberle nickte wieder. So viel hatten sie auch schon von der Mobilfunkgesellschaft erfahren.
»Lio Ongu«, wiederholte Marusso, »47 Jahre alt, von Beruf Diplom-Chemiker und seit zweieinhalb Jahren hier beschäftigt. Gemeldet in Naturns in der Straße Sankt Prokulus – oder Via San Procolo.« Der Jurist blätterte weiter. »Auch ihn hat die Polizei nicht angetroffen. Wir haben an seiner Arbeitsstelle nachgefragt und zur Auskunft erhalten, dass er sich seit einer Woche in Dubai aufhalte – geschäftlich. Es gibt da eine Mobilfunknummer.«
Häberle schrieb sie auf seinen Notizblock. »Beide Personen sind aber bei Ihnen bisher nicht anhängig gewesen?«, fragte er im feinsten Bürokratendeutsch, obwohl er dies eigentlich hasste.
»Nein, nichts bekannt. Ich gehe davon aus, dass sich die Frau Ringeltaube nur gelegentlich als Touristin hier aufhält. Die angegebene Adresse ist eine Ferienwohnung, die auf einen Unternehmer in Deutschland registriert ist«, fuhr Marusso fort. Er suchte erneut nach einer Aufzeichnung in seiner Handakte. »Eine Firma ›Aspromedic-GmbH‹ in Ulm«, las er vor und wiederholte: »Ulm. Das ist doch Ihre Gegend, oder?«
Häberle war verblüfft. Er war zwar rund 450 Kilometer vom Tatort entfernt – und dem Fall offenbar näher, als er gedacht hatte.
Fludium hatte die Liste, die ihm die junge Beamtenanwärterin auf den Aktenberg gelegt hatte, nur überflogen. Dann trank er die fünfte Tasse Kaffee, während Linkohr heute Abend Orangensaft bevorzugte.
Der junge Kriminalist wollte gerade nach der Liste greifen, als sich Fludium dem Computer zuwandte. »Warte mal«, meinte er und klickte ein Programm an, mit dem sich die Telefonbucheinträge ganz Deutschlands darstellen ließen. Dann tippte er den Namen »Dieter Hocke« ein – und zwei Sekunden später listete ihm der Computer auf, was er suchte. »Guck dir das mal an«, sagte
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