Notbremse
wie eine Ewigkeit. Und jetzt zog der Chinese im Vorbeigehen die rechte Hand aus der Hosentasche und hielt ihm etwas vor.
»For you«, sagte er. Für einen Moment sahen sie sich in die Augen. Als ob ihre Blicke wie Schwerter aneinanderstoßen würden. Automatisch griff Hocke nach dem zerknüllten Papier, das ihm der Mann übergeben wollte. »Don’t forget it«, hörte er die Stimme des Chinesen. Und sie klang drohend, gefährlich, bestimmend. Jedenfalls so, als würde sie keinen Widerspruch dulden. Vergiss es nicht, übersetzte Hockes innere Stimme. Vergiss es nicht. So sagte das jemand, der nicht mit sich spaßen ließ. Der unmissverständlich klarmachen wollte, dass Vergessen schlimme Konsequenzen nach sich ziehen würde.
Hocke blieb eine Sekunde lang stehen, während der Chinese die Kabine verließ und sofort außer Sichtweite geriet.
Die Tür schob sich wieder zu. Hocke war nicht in der Lage gewesen, hier auszusteigen. Der Lift setzte sich zwar in Bewegung, doch kaum war die maximale Beschleunigung erreicht, wurde sie durch ein Klicken unterbrochen.
Achte Etage. Hocke hatte inzwischen das Papierstück auseinandergefaltet und gelesen, was handschriftlich und mit ungelenkigen Buchstaben mit Bleistift für ihn notiert worden war: »Tomorrow 11 AM, Forbidden Town, South.« Hocke stockte der Atem. Dieselbe Botschaft wie im Taxi. Morgen, 11 Uhr vormittags, Verbotene Stadt, Süden. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte – jetzt war es klar: Sie hatten es auf ihn abgesehen. Sie waren hinter ihm her. Sie wollten ihn einschüchtern, mürbemachen.
Hocke starrte auf das Papier, während sich die Lifttür wieder schloss, ohne dass jemand eingestiegen war. Er versuchte, in die Lichtschranke zu greifen, um diesen Vorgang zu stoppen und hier aussteigen zu können. Zu spät. Vermutlich war die Technik defekt. Die Tür schob sich zu und der Lift setzte sich abwärts in Bewegung.
Hocke drückte vorsorglich auf den Knopf des Erdgeschosses. Er wollte nicht in ein anderes Stockwerk geholt werden. Unterdessen fiel sein Blick auf zwei weitere Zeilen, die kleiner geschrieben am unteren Rand des Zettels standen, aber dick umrandet waren: »Call nobody! You are illegal in China!«
Ruf niemanden an. Du bist illegal in China.
Sie hatten ihn tatsächlich in der Hand. Und sein Flieger ging erst in rund 40 Stunden – in der Nacht zum Sonntag.
Häberle hatte die Brennerautobahn in Bozen-Nord verlassen. So jedenfalls empfahl es ihm sein mobiles Navigationsgerät, das mit einem Saugnapf an der Windschutzscheibe befestigt war. Er hatte die Seitenscheibe heruntergekurbelt und sich die mediterrane Luft um die Nase wehen lassen. Die inzwischen tiefer stehende Sonne knallte durch die Windschutzscheibe und hüllte das vor ihm liegende breite Tal in ein grelles Licht. Bozen und seine Umgebung waren ihm wohlvertraut. Oft schon hatte er im Wohnmobil mit seiner Frau Susanne hier ein paar erholsame Tage verbracht. Er kannte die Campingplätze – den Mosbauer, der nördlich der Stadt, an der alten Straße Richtung Meran, versteckt in einer Obstplantage lag. Oder den Platz in Leifers, auf der anderen Stadtseite, an der Staatsstraße in Richtung Gardasee.
Bozen war mediterran und gebirgig gleichermaßen – nur ein paar Kilometer von der berühmten Seiser Alm entfernt und dem charakteristisch aufragenden Schlern. Der Campingplatz in Völs am Schlern fiel ihm ein. Direkt unter dem Bergmassiv, aber mit feinster sanitärer Ausstattung, in den Hang des Berges reingebaut. Er wünschte sich, Susanne hätte jetzt auch mitreisen können. Ihr Herz schlug ebenso für diesen reizvollen Landstrich wie seines.
Die freundliche Frauenstimme im Navigationsgerät dirigierte ihn durch das frühabendliche Verkehrsgewühl, zu einer Brücke über die Etsch und damit immer weiter ins Zentrum – zu der Adresse ›Gerichtsplatz 1‹, wo sich die Staatsanwaltschaft befand. Er hatte die Amedeo-Duca-D’Aosta-Allee als Ziel einprogrammiert. Dort, so war ihm empfohlen worden, sei die Zufahrt zur Tiefgarage.
Häberle war bei seinen Reisen nach Südtirol jedes Mal aufs Neue darüber erfreut, dass hier Deutsch gesprochen wurde und er demnach auch alles lesen und verstehen konnte. Er zog eine Parkkarte und stellte den Audi in der schwül-heißen Tiefgarage ab. Eine klare Beschilderung wies ihm den Weg in das Gerichtsgebäude, wo er sich bei einer freundlichen Dame anmeldete, die zu Häberles Erstaunen noch keinen Feierabend hatte. Die Frau hinter der offenbar
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