Notbremse
die Tür zu öffnen, falls niemand anzutreffen sei. Häberle war darüber zufrieden. Er vermied es, tiefer gehende Fragen zu stellen.
Ein paar Minuten später saßen sie gemeinsam mit einem drahtigen jungen Mann in Marussos Dienstwagen – einem nagelneuen Fiat Ulysse, einem geräumigen Van mit Ausstattungsmerkmalen, von denen Häberle nur träumen konnte. Die Fahrweise des Staatsanwalts, so schien es dem deutschen Kommissar auf dem Beifahrersitz, war alles andere als defensiv. Er nutzte jede Lücke im abendlichen Berufs- und Touristenverkehr, um Land zu gewinnen. Trotzdem dauerte es fast 20 Minuten, bis sie endlich die Auffahrt zur Mebo erreicht hatten – der Autobahn hinauf nach Meran, die als einzige hier weit und breit keine Maut kostete. Häberle glaubte sich zu entsinnen, dass die autonomen Südtiroler dafür gekämpft hatten, die Straße gebührenfrei zu halten, um keinen Schleichverkehr durch die seit Jahr und Tag staugeplagten Dörfer zu provozieren. Er konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie er durch die engen Ortsdurchfahrten südwärts gestaut war. Durch Terlan und Siebeneich beispielsweise.
Jetzt war man in weniger als einer Viertelstunde in Lana, einer bei süddeutschen Urlaubern äußerst beliebten Gemeinde, umgeben von riesigen Obstplantagen, die im Frühjahr zwei, drei Wochen lang in schneeweißer Blüte standen. Häberle war dort mal mit seiner Frau auf einem der Waalwege gewandert. Sie folgten den uralten Bewässerungsgräben, entlang derer man sich stundenlang der Beschaulichkeit zwischen Wald und Obstplantagen hingeben und den Blick ins breite und sonnenbegünstigte Tal des Eisacks genießen konnte, vorbei an Jausenstationen, wo Wein und Südtiroler Speck besonders gut mundeten. Vor allem im Herbst, wenn sich über die Sitzplätze der Gartenwirtschaften hinweg die Reben rankten und prächtige Traubendolden herabhingen, empfand er es hier besonders schön.
Häberle versuchte, die nostalgischen Gedanken zu unterdrücken und die Stille im Fahrzeug zu durchbrechen. »Ist Bozen eigentlich ein kriminelles Pflaster?«
Marusso war jetzt auf die vierspurige Straße in Richtung Norden eingebogen. »So kann man das nicht sagen«, erwiderte er. »Wir liegen eben an einer wichtigen Nord-Süd-Route – mit allen Erscheinungen, die das mit sich bringt. Rauschgift, natürlich. Warenschiebereien, auch, ja. Aber im Vergleich zu ähnlich großen Städten mit ähnlicher Struktur hält es sich in Grenzen.«
Typisch Jurist, dachte Häberle. Immer schön vorsichtig formulieren und sich möglichst auf nichts festlegen wollen. »Und Bandenkriminalität? Internationale …?«
»Wenn im Ausland von Kriminalität in Italien gesprochen wird, meint man meist die Mafia«, stellte Marusso fest und sah zu Häberle herüber. »Aber so ist es bei Weitem nicht. Natürlich haben wir international agierende Banden – genau wie Sie auch.«
»Rauschgift?«, hakte Häberle erneut nach. »Prostitution? Oder … vielleicht etwas, das mit Pharmazie zu tun hat?«
Marusso ließ den Fiat an einer ganzen Kolonne Pkws und Lkws vorbeiziehen. Ein bisschen zu schnell, wie Häberle es empfand. »Pharmazie?«, wiederholte der Jurist fragend und schüttelte den Kopf. »Derzeit kein Thema. Sie denken an die Tour de France?«
Der deutsche Kommissar zuckte mit den Schultern. »Ich denk an nichts Spezielles. Aber Sie haben recht. Tour de France, ja. Der Dopingsumpf scheint gewaltig zu sein.«
»Wo es um Geld, Macht und Erfolg geht, wird immer betrogen«, sagte Marusso aus tiefster Überzeugung. »Glauben Sie denn, das ist bei einer Olympiade anders?«
Häberle sagte nichts. Er überlegte sich seit Langem, wie das eigentlich beim Fußball aussah. Die ganz großen Skandale waren dabei ausgeblieben. Oder war da nur die Lobby stark genug, um sie unterm Teppich zu halten? Nirgendwo wurde bekanntermaßen so gut verdient wie da. Von Formel 1 vielleicht mal abgesehen. Häberle wollte darüber jetzt aber weder nachdenken noch diskutieren. »Was sind dann die Fälle, die Sie aktuell beschäftigen?«
»Derzeit ermitteln wir gemeinsam mit der Steuerpolizei gegen eine international tätige Gruppe von Personen, die an Geldspielautomaten manipuliert – in ganz großem Stil. Bei allem, was wir bisher wissen, werden damit nicht nur Steuern hinterzogen, sondern auch die Spieler betrogen.«
Marusso preschte auf der Überholspur an vier Urlaubern aus den Niederlanden vorbei, die mit ihren Wohnwagengespannen wieder nordwärts krochen.
Häberle entsann
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