Notbremse
Unterführung zum Bahnsteig 2 mit rot-weißen Plastikbändern ab. Der auf Gleis 1 stehende Regionalzug diente in gewisser Weise als Sichtschutz. Auch der nahe Fußgängersteg, der über die Gleisanlage führte und der für Schaulustige ein günstiger Aussichtspunkt gewesen wäre, durfte jetzt nicht mehr betreten werden.
Die Passagiere des ICE wurden über Megafon gebeten, auf ihren Plätzen zu bleiben. Aussteigen konnten sie ohnehin nicht, weil die Türen geschlossen blieben. Reisende, die auf der linken Seite saßen, beugten sich dicht an die Scheiben, um auf diese Weise zu erspähen, was sich draußen auf dem Bahnsteig tat. Die Gespräche drehten sich mittlerweile nur noch um den Vorfall, von dem kaum mehr als Gerüchte bekannt waren. Einige Fahrgäste machten ihrem Ärger über die Bahn Luft, die nichts als Verspätungen produziere. Andere kritisierten lautstark den Zugbegleiter, der bislang keine Auskunft darüber gegeben hatte, wie die verpassten Anschlüsse in Stuttgart oder Mannheim ausgeglichen werden konnten. Per Handy wurden Termine verschoben oder abgesagt.
Auf dem Bahnsteig trafen drei Männer der örtlichen Kriminalpolizei ein. Es waren Dienststellenleiter Rudolf Schmittke, sein junger Kollege Mike Linkohr und Herbert Fludium – das übliche Team, das tagsüber für unvorhergesehene Einsätze zur Verfügung stand. Sie wurden von einem uniformierten Oberkommissar in Empfang genommen und zum Zugende geleitet. Dort ließen sie sich von Zugchef Alois Huber die Situation schildern und die drei Zeugen vorstellen. Schmittke, ein kühler Blonder, der gelernt hatte, im Dienst keine Emotionen zu zeigen, folgte dem Zugführer zu der Sprechstelle, von der aus die Durchsagen für den gesamten Zug erfolgten.
»Meine Damen und Herren«, begrüßte er sachlich, »hier spricht die Kriminalpolizei Geislingen an der Steige. Wir möchten Sie bitten, im Zug zu bleiben. Es besteht keinerlei Grund zur Beunruhigung.« Er überlegte für einen Moment und sah aus dem Fenster, wo sein Blick auf eine triste Betonstützmauer fiel. »Wir benötigen Ihre Hilfe«, fuhr er dann fort. »Denn im Erste-Klasse-Abteil des zweiten Zugteils hat es ein Tötungsdelikt gegeben, weshalb wir dringend Zeugen suchen. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit der vorausgegangenen Notbremsung. Falls Sie bereits zuvor im Zug oder während dieser Notbremsung verdächtige Wahrnehmungen gemacht oder eine verdächtige Person gesehen haben, sollten Sie sich dringend mit uns in Verbindung setzen. Wie gesagt, dies bezieht sich nur auf den zweiten, also den hinteren Zugteil. Wir lassen jetzt die Türen öffnen. Bitte steigen Sie nur aus, wenn Sie als Zeuge in Betracht kommen. Ich wiederhole: Nur aussteigen, wenn Sie als Zeuge in Betracht kommen. Sie erreichen uns in der Mitte der gekoppelten Züge.«
Schmittke stieg aus dem klimatisierten Waggon und spürte, wie ihm die vormittägliche Wärme eines sonnigen Julitages entgegenschlug. Während der Kriminalist zur beschriebenen Zugmitte ging, holten ihn bereits mehrere Personen ein, die ihm zu verstehen gaben, dass sie bei der Notbremsung einen Mann hätten wegrennen sehen. Schmittke drehte sich um und sah in die Gesichter von fünf Männern und drei Frauen.
»Danke für diesen Hinweis«, entgegnete er ihnen. »Wir müssen Ihre Angaben zu Protokoll nehmen und brauchen Ihre Personalien.« Er deutete auf Fludium, der die acht Personen ein paar Schritte vom Zug wegführte, um ihnen die notwendigen Formalitäten zu erläutern.
Schmittke und der junge engagierte Linkohr, der insgeheim hoffte, wieder bei einem kniffligen Fall mitarbeiten zu dürfen, wandten sich an den Berliner Clemens Probost sowie an Lara Waldinger und den anderen Mann, der seinen Namen mit Jochen Lemke angab und sich als 35-jährigen Computerexperten aus Castrop-Rauxel vorstellte.
Noch während sich die Kriminalisten die Beobachtungen schildern ließen, trafen die Kollegen der Spurensicherung ein, die sich zunächst ihre weißen Schutzmäntel überstreiften. Schmittke erläuterte kurz und knapp, worum es ging: »Gleich im ersten Abteil – rechts.«
Linkohr wandte sich auf Bitten Schmittkes von den drei Zeugen ab, um per Handy die Chefin der Kriminalpolizei in der Kreisstadt Göppingen zu verständigen. Manuela Maller war jedoch bereits vom Polizeiführer vom Dienst informiert worden und hatte angesichts der vielen Personen, die es aus dem ICE möglicherweise zu vernehmen galt, sofort Verstärkung losgeschickt – und zwar unter der
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