Notizen aus Homs (German Edition)
Schüsse aus dem Fenster des zweiten Treppenabsatzes ab. Wir gehen hinterher. Als wir wieder runtergehen, schießt er, genau als ich an dem offenen Fenster vorbeikomme, und ich nehme die letzten Stufen im Laufschritt, unter dem Gelächter von Raed: »Oh, da habe ich ein Foto verpasst.«
Draußen fährt Abu Hassan mit dem Auto vor. Begrüßung. Abu Hassan zu Raed: »Schießt du?« Raed zeigt seinen Fotoapparat: »Ich schieße.«
Die Schüsse gehen gleichmäßig weiter. Immer so weiter. Wir wechseln den Standort, ich habe noch Zeit für meine Notizen. Die Männer auf den Posten feuern regelmäßig. Es ist diese einzigartig plastische, nervöse Zeit des Wartens. Wenn der Angriff beginnt, wird alles sehr schnell gehen.
Ahmad, der bärtige Bär, ist Hassans Stellvertreter und hat das Kommando, wenn Hassan nicht da ist.
Wir steigen auf ein Dach, auf dem sich ein weiterer Posten befindet. Alaa liegt mit Maschinengewehr und Fernrohr auf dem Bauch, halbwegs geschützt von drei Sandsäcken und einigen Hohlbetonblöcken. Ich lege mich neben ihn, und er zeigt mir mit dem Zoom meiner Lumix die Position der feindlichen Scharfschützen am Ende der Straße, genau geradeaus, in einem Haus hinter dem Stadion, 400 Meter entfernt.
Durch Löcher in den Mauern beobachte und fotografiere ich auch die Scharfschützen-Posten in den Hochhäusern auf der rechten Seite, dem, an dem noch gebaut wird, und dem mit den blauen Fenstern. Man sieht Sandsäcke, knapp 200 Meter entfernt, die Mauern drum herum sind von Einschusslöchern durchsiebt. Es ist ruhig, die Sonne kommt endlich raus und glänzt auf dem trümmerübersäten Dach, von Zeit zu Zeit lässt einer der Männer eine Salve los, sonst unterhält man sich. Uns werden bestickte Kissen gebracht, und wir setzen uns an die Mauer des Treppenhauses, sehr gemütlich. Jemand kocht Tee, wie es scheint.
Plötzlich wieder eine Explosion, die Männer stürzen sich auf ihre Waffen und eröffnen ein intensives Feuer. Die Typen von gegenüber antworten, und man hört das Pfeifen der Kugeln. Ich ziehe mich hinter das Treppenhaus zurück, das auch nicht sehr sicher ist, weil es von Kugeln durchlöchert ist. Raed fotografiert. Es dauert ungefähr fünf Minuten, dann beruhigt es sich. Ich gehe mich wieder hinsetzen: »Na, Alaa, wo ist denn nun der Tee? Ween tschai ?«
Alaa erzählt, dass ein Zivilfahrzeug beim feindlichen Posten angekommen ist, um neue Munition zu bringen, und sie haben darauf geschossen. Sie glauben, dass sie die Typen verwundet haben. Der feindliche Posten hat zurückgeschossen, um seinen Leuten Deckung zu geben. Wir: Woher wusstet ihr, dass es Soldaten waren, wenn es ein Zivilfahrzeug war? Sie haben einen Typen in Uniform in dem Wagen gesehen, deshalb haben sie geschossen. Sie schießen natürlich nicht auf Zivilisten, aber das Militär konfisziert Zivilfahrzeuge, um die Posten zu versorgen, wie hier. Wenn sie mit einem Panzer kämen, würde die FSA ihn mit RPGs in die Luft jagen. Raed: »Aber warum ziehen sie sich dann nicht auch zivil an?« – Alaa: »Dann riskieren sie, von ihren eigenen Scharfschützen beschossen zu werden!«
Es ist wieder sehr ruhig. In der Ferne hört man den Verkehr auf der autostrada . Alaa, der immer noch auf dem Bauch liegt, fallen die Sohlen von den Schuhen.
Zwischen den Zusammenstößen herrscht Langeweile. Die Männer rauchen und plaudern. Jetzt, wo die Sonne rausgekommen ist, ist es weniger kalt. Wir gehen in Ruhe runter in die Kommandozentrale, um mit Hassan, Imad und anderen Tee zu trinken. Fadis Mutter hat köstliche empanadillas 43 mit Käse und Fleisch gemacht, die wir zu dem kochend heißen Tee essen. Das tut unglaublich gut, der Körper entspannt sich sofort.
Danach Rückkehr nach Hause. Heiße Dusche, wundervoll. Als ich rauskomme, ist Raed verschwunden. Plötzlicher Müdigkeitsanfall. Als würde ich mich auf einen Schlag verflüssigen. Man spürt die Anspannung erst, wenn sie nachlässt.
Es knallt wieder. Etwas später kommt Raed zurück. Einer der Männer wurde verletzt, offenbar eine Kugel im Arm. Er beschreibt mir einen achtjährigen Jungen, der ruhig auf der für die Scharfschützen erreichbaren Straßenseite ging, während von allen Seiten geschossen wurde.
Das Leben der Soldaten: schlafen, essen, Waffen reinigen, Wache schieben und von Zeit zu Zeit kämpfen. Viel Geduld und Langeweile für einige intensive Stunden, die manchmal mit einer Verwundung oder dem Tod enden.
Ein junger Mann, den ich nicht
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