Notizen aus Homs (German Edition)
kann. Mehrere Verwundete weisen frische Folterspuren an der Brust auf; der Brustkorb des einen ist von Schlägen förmlich marmoriert, hellrot, wie rohes Fleisch. Ich kopiere mir die Videos. Man hört darauf entsetzte Äußerungen von Abu Hamzeh, während er versucht, die Verletzten gemeinsam mit der Krankenschwester zu behandeln.
Als wir das Interview beendet hatten, ist Abu Hamzeh gegangen, um seine Familie in seinem Heimatdorf zu besuchen. Er wollte zwei oder drei Tage später wiederkommen und hatte mir seine Telefonnummer und seine Skypeadresse gegeben, damit wir Kontakt aufnehmen können. Aber trotz wiederholter Versuche ist es mir wochenlang nicht mehr gelungen, ihn zu erreichen oder zu hören, wie es ihm geht; dasselbe gilt auch für die Mehrzahl der anderen Personen, die ich in Homs getroffen habe. Am Montag, dem 5. März, hat der britische Fernsehsender Channel 4 eine Reportage über seine Videos ausgestrahlt und versichert, dass sie vor weniger als drei Monaten gefilmt wurden und nicht vor fast einem Jahr, wie Abu Hamzeh mir gesagt hatte. Dieser, gefilmt von Raed, gibt in der Reportage mit unscharf gemachtem Gesicht eine Zeugenaussage ab. Vor kurzem konnte ich ihn endlich über Skype erreichen, in einem arabischen Land, wo er materielle Hilfe für die Opposition besorgen wollte.
*
Um 13.45 Uhr, während wir gerade an unseren Computern arbeiten, werden wir durch eine neue Ankunft unterbrochen und gehen hinunter. Es ist ein zehnjähriger Junge, und er ist bereits tot, die Brust quer von einer Kugel durchschossen, die durchs Herz gegangen ist. Ich streichele ihm über das schwarze dichte Haar; sein Gesicht ist schon wächsern. Sanft bindet ihm der Arzt [ es ist nicht mehr Abu Hamzeh, der schon ab gefahren ist, sondern ein anderer ] die Hände mit steriler Gaze zusammen. An der Tür steht sein Cousin, ein erwachsener Mann, der ihn schluchzend betrachtet und immer wieder krampfartig » Alhamdulillah, alhamdulillah, alhamdulillah « sagt. Die Pfleger heben den Kleinen hoch, dessen Oberkörper nackt ist, sein Kopf fällt nach hinten, man trägt ihn in einen leeren Raum nebenan und legt ihn dort auf die kalten Fliesen, ohne Teppich. Ein Aktivist filmt den Leichnam, Raed fotografiert. Trotz unserer Anwesenheit sieht er so allein aus. Es ist zum Gotterbarmen.
Er hieß Taha B. Er wurde im Auto getötet, und seine Schwester ist auch verwundet worden.
Ich wende mich zu Raed. »Schick dem Idioten aus Gembloux nachher eine Kopie von deinem Foto, ja?«
Als ich schon wieder weg bin, kommt sein Vater an. Er ruft, zusammengebrochen, Gott an: »Rache an Baschar! Seine Kinder mögen sterben wie meine!« Ein anderer Mann erklärt ihm, dass es gegen den Islam ist, um Rache an Unschuldigen zu bitten. Raed erzählt mir das später.
Ich gehe wieder rauf, arbeiten und einen Kaffee trinken. Ich habe kaum den ersten Schluck getrunken, als schon wieder einer ankommt, genau 35 Minuten nach dem Kleinen, um 14.20 Uhr. Ein ziemlich dicker Mann, noch bei Bewusstsein, mit einem Einschuss, der seinen Schädel gestreift hat, und einem anderen in der Brust, offenbar in der unteren Lunge. Er wird begleitet von hysterischen, völlig aufgelösten Freunden, die ich mit Gewalt aus dem Zimmer schieben muss, damit die Ärzte ihre Arbeit machen können. Ein Mann schluchzt besonders heftig und will die Hand seines Freundes nicht loslassen, der seinerseits seinen Zustand kommentiert: »Ich habe Schmerzen in der Brust. Ich kann kaum atmen.« Man hält ihm den Kopf hoch, der Arzt macht sich mit schnellen Handgriffen ans Werk, die Freunde dränger immer wieder ins Zimmer. Andere pressen sich an das vergitterte Fenster und schreien Fragen. Der Verletzte muss Flüssigkeit in der Lunge haben, er wird eilig evakuiert, in einem wilden Menschengewühl, zu einem Taxi, das sofort losbraust, vor der Straße mit den Scharfschützen abrupt zum Stehen kommt, rückwärts fährt, mit Höchstgeschwindigkeit wieder startet und durchfährt. Unmittelbar danach sehen wir entsetzt ein paar Kinder über die Straße rennen, dann junge Leute, einen FSA-Soldaten mit seiner Kalaschnikow. Eine Kugel schlägt genau hinter ihm ein. Raed brüllt Abu Brahim an, er solle ihnen verbieten, da rüberzulaufen. Wir gehen wieder rein. Der Arzt erklärt uns, dass die vier, die wir gesehen haben, die drei Verletzten und das tote Kind, alle von demselben Scharfschützen von der Post getroffen wurden. Er gibt dem letzten Verwundeten 20 % Überlebenschance. Wir gehen wieder
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