Notizen einer Verlorenen
immer gereizt genug, sehr knapp zu antworten.
»Und wieso wollen Sie diese Welt hinter sich bringen?«
»Ich habe nicht vor, sie hinter mich zu bringen.«
»Warum sind Sie dann hier?«
Verstört sah ich ihn an. Natürlich, es war ein Selbsthilfeverein für suizidgefährdete Menschen. Was sollte ich auch hier? Ich sah auf Alexander, der mir fröhlich dreinblickend gegenübersaß. Wollte dieser gut gelaunte junge Mann sich wirklich umbringen? Das Mädchen neben ihm, Larissa, sie sah blass und krank aus, aber nicht depressiv. Wollte sie sich ebenfalls das Leben nehmen?
Der Rothaarige wartete immer noch auf eine Antwort. Ausweichend stellte ich ihm eine Gegenfrage.
»Warum sind Sie denn hier?«
Kevin zwinkerte.
»Das wissen eigentlich schon alle hier. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen das sagen darf, wenn Sie noch nicht Mitglied sind. Andererseits ist es auch kein Geheimnis, dass ich mich schuldig fühle am Tod meiner Schwester.«
Marc beugte sich neugierig von der anderen Seite herüber, um Kevin zuzuhören.
»Was ist denn passiert?«, fragte er ihn, auf einmal aus seiner Passivität erwacht.
»Ein Autounfall … ich fuhr den Wagen.« Kevin senkte die Augen. »Damals war ich achtzehn.«
Marc nickte langsam und ausdauernd. »Oh ja, ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen. Mir geht es genauso. Ich habe vor ein paar Wochen meinen Freund überfahren.« Er starrte in die Luft, als sähe er das, was er sagte, bildlich vor sich.
Freund! Innerlich rümpfte ich die Nase. Damit hatte sich Marc sehr weit aus dem Fenster gelehnt.
Aber Kevin, der ihn nicht kannte, nickte ebenso verständnisvoll.
»Wissen Sie«, sagte er, »es ist auch dieses Schuldgefühl meinen Eltern gegenüber. Sie sagen es zwar nicht, aber ich weiß, wie sie darüber denken und ich kann auch verstehen, dass sie mich nicht mehr lieben können.« Kevin sprach sehr leise. »Es ist nun acht Jahre her. Wir kamen von einer Feier und ich fuhr den Wagen meines Vaters. Verstehen Sie? Er hatte ihn mir extra überlassen, damit wir eben nicht nachts mit irgendwelchen Rasern nach Hause fahren …« Seine Lippen bebten. »… ich fuhr zu schnell.« Betreten nahm er einen Schluck aus einem Glas Wasser vor sich auf dem Tisch. Dann hob er seinen Kopf höher und lächelte Marc gezwungen zuversichtlich an. »Seit ich weiß, dass ich daran etwas ändern kann, geht es mir besser.«
»Etwas ändern? Wie wollen Sie denn Geschehenes rückgängig machen?«, staunte Marc.
»Ich meine mein Schuldgefühl. Jahrelang spielte ich mit dem Gedanken mich umzubringen, damit das alles ein Ende hat, aber nicht einmal dazu war ich fähig. Man ist wie gelähmt, tatenlos dazu verdammt, dieses quälende Gefühl zu ertragen. Und dann schafft man es nicht einmal, sich umzubringen!«
»Ja – tatenlos.« Marcs Augen hingen gebannt an Kevins Lippen.
Kevin sah uns allen ins Gesicht, als suchte er noch mehr Bestätigung und dann wandte er sich wieder an Marc.
»Darf ich Du sagen?«
»Sicher! Ich bin Marc!«
Sie schüttelten sich die Hände.
»Kommst du mit an die Bar?«
Die beiden verschwanden von unserem Tisch und erschienen schon jetzt von hinten betrachtet wie dicke Freunde. Kevin legte seine Hand auf Marcs Rücken und sie tuschelten im Weitergehen mit einander zugeneigten Köpfen.
»Da haben sich zwei gefunden«, sagte Alexander lachend und ich merkte, wie fremd er mir eigentlich war. Ich wusste nicht, wie viel er von ihrem Gespräch mitbekommen hatte auf der anderen Seite des Tisches. Aber seine unsensible Art, darüber hinwegzugehen, störte mich auf einmal. Da redeten zwei Menschen über die schlimmsten Erlebnisse ihres Lebens und Alexander fand nichts, als eine amüsierte Bemerkung dazu.
Er kam herüber und setzte sich breitbeinig auf Kevins frei gewordenen Sessel. Nein, heute mutierte er wohl doch nur zu einem selbstgefälligen Chauvi für mich, nicht zu einer Gefahr für meine einsame Seele. Mit einem Glas Wein in der Hand prostete er mir lächelnd zu.
»Du trinkst sehr viel«, stellte ich fest.
Alexanders Lächeln erstarb. Er setzte das Glas an seinen Mund und beobachtete mich, während er trank. »Kevin ist einer meiner besten Freunde«, sagte er, das Glas in einem Zug halb geleert. »Genauso, wie Jens es war.«
»Wenn Jens so ein guter Freund war, warum hast du ihn dann nicht von seinem Plan abhalten können?«
»Ich war sein Freund, nicht sein Schutzengel. Es war sein Leben und ich habe seinen Entschluss so akzeptiert, wie er es wünschte.«
»Das heißt, du
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