Notizen einer Verlorenen
die mir immer mehr missfiel. Ständig lag ein Glas an seinen Lippen, roch sein Atem nach Alkohol, auch wenn man ihm sonst kaum etwas anmerkte. Es stimmte nicht, was Buchheim behauptet hatte. Alex vertrug sehr wohl eine Menge Alkohol. Ein Wunder, dass man es ihm noch nicht ansah. Er sprach mich nicht mehr an, an diesem Abend, und auch ich ging ihm aus dem Weg.
Am nächsten Tag durchsuchte ich das Internet nach außergewöhnlichen Todesfällen. Ich dachte, diese traurigen Fälle könnten mir als Anregung dienen. In jeder weiteren freien Minute dachte ich darüber nach, was ich ihnen als Köder hinwerfen könnte. Es war etwas Unheimliches dabei, seinen eigenen Tod im Geiste zu planen, auch wenn ich es ja in Wirklichkeit nicht wahr machen wollte. Es war etwas Kribbelndes – das Wissen darum, etwas ethisch völlig Unmögliches, ja etwas Verbotenes, zu tun. So musste sich jemand fühlen, der von innen eine Toilettentür beschmierte, ein Mörder, der seine perverse Tat im Geist durchspielte, ein Terrorist vor einem Anschlag. Niemand bemerkte, was in meinem Geiste ablief, und niemand durfte davon erfahren. Gedanken sind frei, solange niemand von ihnen erfährt.
Ich fand einiges Makabres im Netz. Aber ich konnte mich weder für U-Bahn-Surfen noch für einen Sprung in ein Eisbärgehege oder Ähnliches erwärmen. All das erschien mir viel zu brutal und vor allem zu schnell durchführbar. Was ich brauchte, war Zeit. Doch Zeit wozu? Was wollte ich im Haus der Verlorenen erreichen? Wollte ich den Selbstmordkandidaten helfen? Bisher hatte ich noch keine Versuche unternommen, irgendwen vom Sinn des Lebens und vom Streben danach zu überzeugen. Selbst Marc ließ ich widerspruchslos immer tiefer in seine selbstmörderischen Absichten hinein sinken. Nein, ich wollte Marc nicht retten. Ich wollte Alexander! Ihn mussten sie mir geben! Darum ging ich Abend für Abend dorthin, redete ich mir ein. Dass ich mich in ihrer Gesellschaft immer wohler fühlte, war ein schöner Nebeneffekt, den ich einerseits genoss, der mir andererseits aber etwas Angst vor mir selbst machte.
Es sollte mir doch gelingen, innerhalb eines Jahres wenigstens Alexander zur Vernunft zu bringen und vom Streben nach dem Leben zu überzeugen. Buchheim , dachte ich, der alte Mann ist der Antreiber. Seine Gehässigkeit, sein Drängen mir gegenüber, machte es mehr als deutlich. Ich musste Alexander seinem Einfluss entziehen und ihn davon überzeugen, dass Buchheim das Übel in Person war.
Der Crash
Am Nachmittag stand Marc vor der Tür. Er wollte unbedingt mit mir zu einem leer stehenden Industriegelände fahren, warum auch immer. Das schlechte Gewissen ihm gegenüber bewegte mich dazu, nachzugeben. Vielleicht, ganz vielleicht, wollte ich mich auch um Marcs Leben bemühen.
Marc sprach unterwegs dauernd von einem großen Crash . Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er die ganze Zeit über seinen kommenden Tod sprach.
Er wollte möglichst alle Details bei der Ausarbeitung seines Planes berücksichtigen und mit mir gemeinsam den Originalschauplatz seines heldenhaften Finales körperlich erkunden. Seine Wahl war auf ein stadtnahes verlassenes Industriegelände in Essen West gefallen. Während der Fahrt dorthin packte mich immer wieder die Erinnerung an unsere nächtliche Geisterfahrt auf der A40 und vor jeder möglichen Einbiegung auf eine falsche Fahrspur krallte ich mich in den Beifahrersitz, sodass mir ein Fingernagel umknickte. Er parkte den Wagen direkt auf dem Gelände einer ehemaligen Metall verarbeitenden Fabrik. Die Wege waren von Bauschutt übersät. Angefangene und wieder abgebrochene Abrissarbeiten hatten ihre Spuren hinterlassen. Das Gebäude stand noch zum größten Teil, die verbliebenen Fensterscheiben waren zerborsten und die spitzen Zacken der Glasreste gaben dem verlassenen Ort ein noch einsameres Aussehen.
Marc balancierte über das Geröll, das, außer aus den rötlichen Steinbrocken der Außenmauern, auch aus Draht und vor allem Beton bestand. Ich stolperte hinterher. Wir drangen tiefer in das Gelände vor, wo die Abrissarbeiten noch nicht einmal begonnen hatten. Dort fand er Untergrundverhältnisse, die ihm einigermaßen zusagten. Aber so ganz zufrieden war er noch nicht.
»Das braucht tatkräftige Unterstützung«, murmelte er. »An sich ist der Ort geeignet, aber da ist wirklich noch einiges vorzubereiten.«
Ich beobachtete ihn, wie er lange die weit entfernte massive rote Mauer des Gebäudes betrachtete.
»Was hast du eigentlich
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