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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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einfach und seine Drohung ebenfalls.
    Eines Abends kam ein Mann in das Haus der Verlorenen , den ich bisher noch nie gesehen hatte. Er war ein braun gebrannter Mittvierziger, der sehr unzufrieden aussah, und er setzte sich an einen der niedrigen Tische, wobei er nur kurz brummend diejenigen, die ihm begegneten, grüßte. Scheinbar war er allen bekannt, denn aus mehreren Ecken sahen sich die Mitglieder nach ihm um. Einige nannten ihn bei seinem Namen: Jochen. Er schien sehr mürrisch und bedrückt und jeder, der in seine Nähe kam, nahm Rücksicht auf ihn. Sie verhielten sich anders als sonst und vermieden das Gespräch mit ihm. Wer aber einem Wortwechsel nicht ausweichen konnte, tat das behutsam und leise. Es schien eine Art Trauer um ihn herum zu sein, die seine gesamte Umgebung vereinnahmte. An einem anderen Ort lachten sie noch, hier legten sie ihre Stirn in Falten. Ich begann, aus diesen Beobachtungen heraus, insgeheim Spekulationen über schwere Erkrankungen, Depressionen und mögliche Trauerfälle in seinem Leben anzustellen, was mich schließlich so neugierig machte, dass ich seine Nähe suchte. Nur, um etwas mehr von ihm zu erfahren, Wortfetzen aus Unterhaltungen vielleicht, die mich auf die richtige Spur bringen konnten. Mit meiner Teetasse in der Hand schlich ich also angeblich gedankenverloren zu seinem Tisch, wo sich inzwischen Buchheim zu ihm gesellt hatte.
    »Wie geht es dir, Jochen?«, fragte Buchheim ihn.
    Jochen wandte sich übel gelaunt von ihm ab.
    »Wie soll es mir schon gehen – gut, wie immer!«
    Viel mehr konnte ich nicht aus ihrer Unterhaltung aufschnappen, weil sich der Abstand zu ihnen als zu groß erwies. Im Gemurmel ringsherum fing ich aber das Wort Krebs auf und ich war mir gleich sicher, dass es sich dabei nicht um das krabbelnde Meerestier handelte. Nur diese Antwort »Gut, wie immer« passte nicht dazu und stellte mich vor ein unlösbares Rätsel. Doch mich Buchheim noch mehr zu nähern oder gar diesen Jochen anzusprechen, der sorgenvoll missmutig dreinblickte, wagte ich nicht. Ich gehörte zwar zur Gemeinschaft, aber sie teilten noch nicht alles mit mir. Dass es mich schmerzte, musste ich mir eingestehen. Kein anderer sonst schien sich etwa vor Buchheim zu fürchten.
    Mein Blick fiel auf Kevin und zwei andere junge Männer, die sich in einer abgelegenen Sitzgruppe auch heute wieder mit diesem rätselhaften Faltblatt beschäftigten. Sie hingen mit gebeugten Köpfen darüber und flüsterten. Ich fragte mich schon lange, was die drei so Geheimnisvolles ausarbeiteten, das niemand mitbekommen durfte. »Sie schmieden Pläne«, hatte Alex gesagt. Selbstmörderische Pläne? An diesem Tag kroch die Erinnerung an den Zweck unserer Gemeinschaft wieder an die Oberfläche meines Geistes.
    Gemächlich schlenderte ich hinter die Rücken der beschäftigten Männer und versuchte, ohne mir Böses zu denken, von ihren Plänen etwas zu erhaschen, bis Kevin sich auf einmal umdrehte. Er betrachtete mich freundlich, obgleich mir bewusst wurde, dass ich sie belauscht hatte.
    »Na, Sarah«, sagte er, »du willst wissen, was wir hier planen, oder?«
    Seine Direktheit erschreckte mich. Ich fühlte mich hässlich ertappt. Nie hatte ich jemanden in diesen Räumen die anderen ausspionieren sehen, doch Kevin schien nicht beleidigt oder verärgert. Im Gegenteil, er blickte verständnisvoll auf meine erschrockenen Augen und dann sagte er mir das Unfassbare völlig ungerührt ins Gesicht. Sie planten ihren gemeinsamen Selbstmord! Einen besonderen Selbstmord! Er sagte das, als wäre es das Normalste der Welt, wie ein Projekt, das man bearbeitet und für das man einen Ablaufplan erstellt.
    Natürlich wusste ich, dass meine Freunde im Haus der Verlorenen letztendlich alle zum Selbstmord entschlossen waren. Es war mir jedoch nie in den Sinn gekommen, dass sie es direkt vor meinen Augen planten. Ich hatte es immer nur als ein bedrückendes Ereignis in ferner Zukunft betrachtet, nie dachte ich dabei an die Gegenwart.
    Ab diesem Tag wurde alles anders. Selbst, wenn es später Abende gab, an denen ich all das besser verdrängen konnte, blieb ab da an ein stetiges beklemmendes Gefühl, wenn ich diese Räume in der Weberstraße betrat.
    Kevin summte vor sich hin, irgendetwas ohne echte Melodie. Dabei schmunzelte er ganz leicht und strich sich über sein rötliches Haar.
    Ein besonderer Selbstmord? Was konnte man mehr tun, als sich von einer Brücke fallen zu lassen, Tabletten zu nehmen oder vor ein Auto zu werfen? Schon

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