Notizen einer Verlorenen
Taschenkalender gezückt.
»Am 12. November! Wir hoffen, dass das Wetter mitspielt, sonst müssen wir verschieben.«
Erregt verfielen sie in Diskussionen, derweil ich kaum verinnerlichen konnte, dass diese Ankündigung vollkommen ernst gemeint war. Verblüffend, wie viel Mühe und Sorgfalt sie für ein Vorhaben aufwanden, das sie letztlich zu Tode bringen sollte. Es kam mir vor, als stünde ich als Statist mitten in einem Film, in einem Theaterstück mit eher schlechteren Schauspielern und ich meinte, gleich müsste jemand mit einer Klappe klatschen und den Spuk beenden.
»Wie steht es eigentlich mit Ihnen?«
Buchheim stand auf einmal mit seinem Taschenkalender vor mir. Ich zuckte für alle erkennbar zusammen, als ich ihn sah. In den letzten Wochen hatte ich einiges getan, um ihm aus dem Weg zu gehen und irgendwie gehofft, er könnte mich genauso vergessen, wie ich ihn.
»Ja, was ist mit dir?«
Auch Kevin hatte sich mir zugewandt und es mit seiner lauten Frage geschafft, auch die Aufmerksamkeit des Restes, der an seinen Lippen hängenden Anwesenden, auf mich zu lenken.
Ich wusste, wovon sie sprachen und was sie erwarteten, doch natürlich hatte ich nicht das Geringste beabsichtigt. Es ging mir doch gut. Seit ich im Haus der Verlorenen ein und aus ging sogar besser, als lange zuvor. Sogar meine elenden Kopfschmerzen hatten sich gelegt, meine Einsamkeit sich geschmälert, meine Schuldgefühle Jens gegenüber waren verblasst und meine Hoffnung auf Alexanders Zuneigung gewachsen. Warum um alles in der Welt sollte ich mich jetzt umbringen wollen?
»Ich dachte, vor Ablauf eines Jahres darf man sowieso nichts ausführen – wegen der Mitgliedsbeiträge«, wendete ich zaghaft ein.
»Sicher!«, sagte Buchheim. »Aber Sie werden doch schon eine Grundvorstellung haben. Das mit dem einen Jahr, sagte ich Ihnen ja bereits, nehmen wir hier nicht so genau. Sie können sich ruhig schon damit befassen.«
Ich verfluchte ihn innerlich. Sein herausfordernder und beunruhigender Tonfall machte mir klar, dass er meine Mitgliedschaft ganz und gar nicht so arglos hinnahm, wie ich es im Nachhinein gehofft hatte. Gespannte Augenpaare blickten mich an. Sollte ich etwa zugeben, dass ich hier nur so reingerutscht war, ohne je ernsthaft an die Erfüllung ihrer todessüchtigen Vorstellungen zu denken? Dass ich sie betrog, mich eingeschlichen hatte in ihre verschworene Gemeinschaft, nur um teilzuhaben, um dazuzugehören, um Alexander nahe zu sein? In Gedanken sah ich ihre enttäuschten Blicke, Alexanders verletztes Gesicht und Buchheim in seinem schwarzen Buch nach einer unaussprechlichen Strafe blättern.
Ich rang um eine Ausrede.
»Bis jetzt habe ich nichts Vernünftiges in der Schublade. Aber es ist ja auch nicht so einfach, mit euch Schritt zu halten. Auch ich möchte natürlich nicht ganz alltäglich aus dem Leben gehen und mich erst einmal von euch inspirieren lassen.«
Mein Einwand wurde allgemein als gerechtfertigt empfunden, ich sah es an ihren Gesichtern, allerdings nicht von Buchheim.
»Das trifft genau das, was ich hier schon öfter angesprochen habe. Dieses eine Jahr und dieses ständige Planen besonders ungewöhnlicher Vorhaben hemmen mehr, als dass es vorantreibt.«
»Aber es macht uns Spaß und das ist, neben der Absicherung nach dem Tode, doch Sinn und Zweck unserer Mitgliedschaft. So empfinde ich es jedenfalls«, warf Kevin ein und fand dafür große Zustimmung. »Sonst könnte man es doch gleich im einsamen Kämmerlein machen.«
»Ihr sollt ja euren Spaß haben. Ich verstehe ja …« Buchheim verzog den Mund und schüttelte den Kopf. »… Übertreibt es nur nicht so«, war schließlich sein Rat, woraufhin er mich zum Glück in Ruhe ließ und zurück zu diesem Jochen ging.
Ich atmete auf. Für heute war es gut gegangen. Allerdings schien mir nichts anderes übrig zu bleiben, als zu den nächsten Treffen ab und zu ein paar Selbstmordideen mitzubringen, die ich ja dann wieder verwerfen konnte. Ein Jahr – im Moment erschien es mir eine lange Zeit bis dahin. Über das, was ich nach Ablauf dieser Schonfrist tun sollte, wollte ich mir noch keine Gedanken machen. Ich wollte im Jetzt leben. Mein Blick fiel auf Alexander, der sich auch der neugierigen kleinen Menge angeschlossen hatte und jetzt Marc zum Tresen folgte. Er sagte nichts, er sah nicht enttäuscht aus, aber auch nicht zufrieden. Mit undurchsichtigem Ernst lehnte er sich an die Bar und nippte mal wieder an einem Glas. Er trank deutlich zu viel. Eine Tatsache,
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