Notizen einer Verlorenen
sprechen Sie«, forderte Buchheim ihn auf. Sogar Buchheim sprach ihn sanfter und rücksichtsvoller an, als jeden anderen.
Lenger erhob sich und blickte flüchtig über alle hinweg. Dann senkte er die Augen, um sich auf die Unterlagen zu konzentrieren, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Vielleicht brauchte er diese Papiere auch nur, um sich an irgendetwas zu klammern. Bevor er sprach, räusperte er sich den Hals frei. Alle warteten gespannt, was nun kommen würde.
»Ich wollte Ihnen allen mitteilen, dass ich eine Entscheidung getroffen habe …« Seine Hand fuhr nervös vor den Mund, als er erneut hüstelte. »… das heißt, der Termin für mein Vorhaben steht fest. Es ist der 31. Dezember, nachts um 0.00 Uhr.«
Sein Vorhaben? Ich ahnte zwar, was er damit meinte, aber mein ohnehin aufgewühlter Verstand wehrte sich dagegen, es zu Ende zu denken.
Das Staunen über seine so präzise Bekanntgabe war unter den Anwesenden recht groß und man merkte, dass er nun, da er sich ernst genommen fühlte, schon fester in die Runde blickte.
»Wie wollen Sie es machen?«, fragte Buchheim voller Interesse.
Mit seiner neuen selbstsichereren Stimme kündigte Lenger stolz an: »Ich werde mich am Silvestertag alleine auf einen bestimmten Marktplatz begeben, und zwar mit drei oder vier Sprengkörpern um meinen Leib gebunden. Diese werde ich mithilfe eines manuellen Mechanismus genau um 0.00 Uhr zünden, sodass sie gleichzeitig hochgehen und mich in jedem Fall schnell und ganz sicher töten. Da sich dort zu Silvester bisher niemals Leute aufhielten, wird wahrscheinlich auch niemand sonst gefährdet werden. In dem Getöse der Silvesterkracher wird man es kaum bemerken und außerdem wird der Sachschaden gering sein.« Lenger stoppte und verbeugte sich knapp. »Ich danke Ihnen.«
Dann setzte er sich, ohne noch einmal aufzublicken und nahm seine Unterlagen leicht zitternd vom Tisch.
Einige klatschten leisen Beifall, andere bestätigten mit Klopfen auf dem Tisch. Nur Buchheim schlug sich die Hände vor das Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Das ist genau das, was ich meinte! Kinder, warum könnt ihr es nicht unauffällig machen?« Dann fasste er sich wieder und stöhnte: »Wie ich dem Beifall entnehme, gilt der Plan dann wohl auch als einstimmig angenommen?«
Die übrige Gemeinschaft schmunzelte zustimmend und mir blieb jedes ablehnende Wort in der Luftröhre stecken.
Der schmächtige Mann stand auf und ging um den Tisch herum, bis er Buchheims Sitzplatz erreichte.
»Herr Buchheim, hier ist mein Beitrag für den Verein. Es ist der größte Teil meiner Ersparnisse.«
Mit demonstrativem Respekt nahm Buchheim einen dicken braunen Briefumschlag an, blickte kurz hinein und verstaute ihn zufrieden in einer Aktentasche neben seinem Sitz.
»Sollen Mitglieder Sie ein Stück auf diesem letzten Weg begleiten?«
Lenger schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht nötig. Danke für Ihr Angebot. In diesem Punkt war ich zunächst unsicher, doch nach der Diskussion heute Abend, bin ich fest entschlossen, diesen Weg alleine zu gehen.«
Buchheim nickte anerkennend. »Wir werden Ihre Entscheidung respektieren.«
Da richtete sich Alexander auf und wandte sich in offensichtlicher Hochstimmung an uns übrige am Tisch.
»Ich schlage vor, am Silvesterabend für unseren Freund Lenger ein Abschiedsfest zu geben.«
»Vorschlag angenommen!«, verlauteten Franziska und Buchheim gemeinsam.
Alle Mitglieder stimmten gut gelaunt zu.
Lenger schien sich über die ihm zugedachte Ehre zu freuen. Er lächelte zaghaft.
»Danke schön«, hauchte er und schon wich sein fester Blick von vorhin wieder einem verschämten Wimpernschlag nach unten.
Nachdem sich die nun wieder entflammte Unruhe gelegt hatte, schloss Buchheim die Sitzung mit den Worten: »Da Weiteres nicht zu besprechen ist …«
Damit war ich zumindest heute kein Thema und der offizielle Teil des Abends erledigt. Ich war sehr betrübt, im Gegensatz zu den anderen, die sich gut gelaunt schwätzend im Haus verteilten. Nicht einer von ihnen setzte eine traurige Miene auf. Alexander, Franziska, Kevin, sogar Larissa … sie alle nahmen angeregte Gespräche auf, als hätten sie in ihrer Vereinssitzung etwas ganz Gewöhnliches erfahren und nicht von dem bevorstehenden Tod eines Menschen, den sie kannten. Keiner von ihnen schien Gewissensbisse zu haben oder sich schlecht zu fühlen, bei dem, was Lenger vorhatte. Heute fühlte ich mich als das, was ich wirklich war, als fremd unter ihnen, als ein Mensch, der
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