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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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vor?«
    Es überraschte mich selbst, dass ich mich wirklich für sein Befinden interessierte.
    Geistesabwesend sah er mich kurz an, dann wanderte sein Blick wieder lange Zeit zu der Mauer des Gebäudes zurück. Schließlich sprach er, ohne mich anzusehen.
    »Ich habe das alles schon zig Mal durchgeplant. Ich sehe es vor mir. Wie ich den Autoschlüssel aus dem Innenteil meiner Lederjacke nehme und ihn ein paar Mal um meinen Finger wirbele. Dann steige ich ein – langsam, damit jedem dieser Augenblick in Erinnerung bleibt, in der Gewissheit, mich das letzte Mal lebend gesehen zu haben. Bevor ich losfahre, vergesse ich nicht, das Verdeck zu öffnen. Zündung! Der Wagen springt sauber an, wie immer. Ich achte darauf, dass ich mich nicht anschnalle. Dann lege ich den Gang ein und fahre – rückwärts! Denn ich brauche mehr Schwung. Tags zuvor haben sie mit mir gemeinsam die Distanz ausgemessen, die mindestens nötig sein muss, um zu einem tödlichen Crash an der Mauer zu führen. Sie reicht mir an diesem Tag aber nicht mehr. Ich will vollkommene tödliche Sicherheit. Nach etwa zweihundert Metern – mehr sind örtlich nicht drin – stoppe ich. Durch die Frontscheibe sehe ich die Mauer. Diese Steine werden das Letzte sein, was ich sehe – alte dicke Steine eines verlassenen Industriegebäudes. Ich schalte in den ersten Gang und lasse den Motor aufheulen. Es darf nichts schief gehen. Ich gebe Vollgas. Die Räder quietschen, drehen sich durch und ich rase auf die Mauer zu. Alles geht blitzschnell. Die Mauer kommt näher, ein lauter Knall und Schluss. Keine Gefühle mehr. Das war's.« Er drehte sich um. »Buchheim sagt, der Tod ist süßer als das Leben.«
    Schweigend hörte ich ihm zu und beobachtete seine müden Augen. Ich war sprachlos. Und betroffen! Wie hatte ich Marc nur mit seinen Schuldgefühlen und mit seinem inneren Kampf so alleine lassen können?
    Seine Augen blinzelten mich bekümmert an. »Doch es gibt ein Problem.«
    Ich ließ mir meine Betroffenheit nicht anmerken.
    »Welches Problem?«
    »Seit Monaten bin ich nicht mehr derselbe, der ich mal war«, gab er zu. »Seit der elenden Geschichte mit Jens habe ich gewisse Ängste. Es ist mir peinlich, darüber zu sprechen. Vor was genau, weiß ich nicht einmal. Manchmal ist alles gut, doch manchmal, ohne Vorwarnung, bricht mir der Schweiß aus, zittere ich am ganzen Körper und kann mich nicht vom Fleck rühren. Dann wieder könnte ich weglaufen, kopflos, irgendwo hin, völlig sinnlos. Was, wenn ich plötzlich vor der Mauer Panik bekäme? Blamage! Wie stünde ich da? … Nein, ich weiß noch nicht. Vielleicht muss ich einen anderen Plan fassen … obwohl ich finde, ein solcher Crash hätte mein Leben irgendwie abgerundet. Findest du nicht? Ich kann das langsam auch nicht mehr aushalten. Es muss ein Ende haben, dieses Grübeln und Selbstzerfleischen. Freunde im Haus der Verlorenen , gut und schön, aber letztlich bleibt man mit sich doch allein, oder? Und einzig dieser Plan macht die kleine Zukunft, die ich vor mir sehe, erträglich.«
    Hilfe suchend sah er mich an und ich blieb eine Weile stumm. Ich wollte nicht, dass er seinen Plan je in die Tat umsetzte, doch ich sagte es nicht, weil ich ihn verstand in diesem Moment. Ich wusste, wie er sich fühlte, wie es an ihm genauso nagte, wie an mir. Es hätte sein Leben tatsächlich abgerundet. Ja, so sah ich das. Doch das, was ich dachte, wollte ich ihm nicht sagen.
    »Vielleicht denkst du einfach noch mal darüber nach. Du hast ja noch Zeit.«
    Ich weiß, dass es viel zu wenig war, was ich sagte, aber Marc nickte.
    »Vielleicht hast du recht«, antwortete er.
    »Genau – und vielleicht ist dieses Gelände auch nicht der richtige Ort für deinen Plan! Überlege mal – die Mauern sind alt …«
    »Aber sie sind extrem massiv!«
    »… sie könnten aber auch zu sehr nachgeben, denke ich. Warum auch gerade hier?«
    »Hier kann ich mich gut vorbereiten. Es ist so verlassen, dass kaum einer hierher kommt. An einen Brückenpfeiler habe ich auch schon mal gedacht …«
    »Also ich würde diesen Mauern nicht trauen.«
    Sein Blick schweifte gedankenversunken zum Gemäuer. »Ja … mal sehen.«

Komposition eines Lebens

    An einem der nächsten Sonntage war Vereinssitzung. Buchheim wollte etwas Wichtiges besprechen, deshalb setzten wir uns alle an diesen großen ovalen Tisch, der auch für mein Aufnahmeritual gut gewesen war. Ich hoffte, dass er nicht über mich sprechen wollte, da ich noch immer nichts verkündet hatte, was

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