Notluegen
sagen, fügt der Mann hinzu. Du bist ja immerhin vier Jahre jünger als ich, und immer noch wunderschön.
Mit diesem Kompliment gelingt es dem Mann nur teilweise, die Nervosität zu verbergen, welche die Frau mit ihm teilt, fast wie früher, als sie so viel mehr zu teilen pflegten, aber dort an dem Tisch mit dem Apfelstrudel auf dem Teller vor sich kann die Nervosität des Mannes wie Widerwille wirken, auch isst er kaum etwas, als würde er auf Rache sinnen, obwohl die Frau ja weiß, dass er alles andere als nachtragend ist. Auch ihre eigene Nervosität hat nichts mit Rache zu tun, sondern ausschließlich damit, dass sie nicht einmal beim Nachtisch ihr eigentliches Anliegen über die Lippen gebracht hat.
Stattdessen reden sie über alles Mögliche: über gemeinsame Bekannte von früher, allerdings mit wenigen Worten und ohne richtige Wärme, eigentlich nur, um zu prüfen, ob wenigstens ein kleiner Teil ihres früheren Zusammenlebens hat überdauern können, ob wenigstens irgendetwas von früher Bestand hat, aber ohne besonders überrascht zu sein, wenn sich dies nur selten als zutreffend erweist.
Inzwischen ist es spät geworden und Zeit für den Abwasch.
Aber der Mann, bemerkenswert unberührt von allem, was an diesem Abend im Herd angebrannt ist, zudem ermuntert von einer ganzen Menge Wein und dem Schweigen seiner ehemaligen Frau, bittet sie, sich wieder zu setzen.
Du hast das ganze Leben vor dir, um abzuwaschen, sagt er.
Der Mann hat jetzt angefangen, sich viel wortreicher auszudrücken als während der Vorspeise (was sie als Vorspeise gegessen haben, ist beiden schon entfallen), etwas, was die Frau noch nervöser macht, da dieser Wortschwall ihr eigenes Schweigen unterstreicht und sie an das erinnert, was sie noch nicht über die Lippen gebracht hat.
Zwar spricht er jetzt nicht mehr von gemeinsamen Bekannten, sondern über sie beide, über ihre damalige Ehe, und auch nicht auf eine Weise, mit der sie sich nach dem Gespräch auf dem Schloss einverstanden fühlt. Aber das Schlimmste ist trotz allem ebendies: dass der Mann jetzt tatsächlich zu reden begonnen hat, während sie selbst weiterhin schweigt.
Die Frau schenkt ihm ein neues Glas ein.
Wenn du wüsstest, wie lange ich darauf gewartet habe, sagt der Mann.
Denn die Scheidung war ja für ihren ehemaligen Mann schwer, endlich hat er die Gelegenheit, dies auszusprechen, ein harter Schlag, von dem er (der Mann will diese Möglichkeit offenhalten) sich vielleicht nie erholen wird, und während er ausführlich beschreibt, wie dieser Schlag ihn damals so unerwartet und mit solch zerstörerischer Kraft getroffen hat, sieht die Frau, dass seine Augen feucht geworden sind, dass sich in seinem linken Auge aus all der dort versammelten Feuchtigkeit eine Träne löst, die wie ein durchsichtiger, glasklarer Strich langsam über seine Wange rinnt, und die Frau versteht, dass der Mann über sich selbst weint.
Dass dieser zerstörerische Schlag ihn so kurz nach der Invasion in jenem Sommer vor langer Zeit getroffen hat, hat den Mann dazu gebracht, darüber nachzudenken, ob dieser Schlag nichts mit jenem anderen zu tun hatte, also die Katastrophe des Landes mit ihrer privaten, jedenfalls will er nicht ausschließen, dass sie vielleicht immer noch glücklich miteinander verheiratet wären, wenn nicht die Weltpolitik dazwischengekommen wäre, und aus dem, was der Mann sagt, folgert die Frau, dass er betrunken sein muss und nicht mehr weiß, was er sagt, denn scheiden lassen haben sie sich ja erst achtzehn Jahre nach der Invasion.
Eine solche Geschichtsschreibung kann sie nicht akzeptieren, aber bevor die Frau es schafft zu protestieren, hat er sie bereits fortgesetzt.
Die Würfel sind in Moskau gefallen, sagt er. Da ist unsere Ehe zerstört worden. An allem sind die Russen schuld.
Ja, wiederholt er nach einer kurzen Pause. An allem sind die Russen schuld.
Möchtest du Kaffee, fragt die Frau.
Aber der Mann hört nicht auf sie; selten bietet die Weltpolitik Kaffeepausen, und angesichts der Geschichte ist er bereit, seine persönliche Verantwortung zu schultern.
Wäre es dir und mir nur vergönnt gewesen, in einer anderen Zeit zu leben, sagt er, beispielsweise in einer wie jetzt, dann hätten wir unsere Ehe retten können, davon bin ich überzeugt, und mit einer Hand, die leicht zittert, wischt er sich über die Wange, und zu alledem hätte die Frau etwas sagen sollen, etwas darüber, dass auch sie von einem Schlag getroffen wurde, mindestens so hart und
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