Notruf 112
in »besonders gelagerten Einzelfällen« eine Art Überbrückungsgeld auslegt. Ich wähle die Nummer und drücke mir selbst die Däumchen, dass das hier solch ein »besonders gelagerter Einzelfall« sein möge. Es meldet sich sofort ein sehr höflicher Mitarbeiter, der sich, ohne zu zögern, alle Daten notiert und unser Gespräch mit den Worten beendet: »Ich werde mich um den Fall kümmern.« Mit genau den gleichen Worten habe ich mich ein paar Minuten zuvor im Zustand völliger Ratlosigkeit von Herrn Hollmann verabschiedet. Hoffentlich hat der Mann vom Auswärtigen Amt einen besseren Plan als ich.
Eine Dreiviertelstunde vergeht. Dann klingelt wieder das Telefon. Herr Hollmann – diesmal geradezu euphorisch!
»Danke! Vielen, vielen Dank! Meine Frau wird in Kürze operiert. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin …«
Oh doch, Herr Hollmann. Das kann ich mir sehr wohl vorstellen. Ich bin doch nicht minder erleichtert. Und ich habe bis heute nicht den Hauch einer Ahnung, welche Hebel das Auswärtige Amt in Polen in einem derart kurzen Zeitraum mitten in der Nacht in Bewegung gesetzt hat. Respekt!
Olegs Schicksal
Der Anrufer stöhnt und röchelt, ist offenbar nicht in der Lage zu sprechen. Es ist der 12. Oktober 2012, mittags um 14.34 Uhr. Ein Blick aufs Display: Der Anruf kommt von einem Handy mit der Vorwahl +40. Also aus Rumänien! Das macht die Sache nicht gerade einfacher.
»Hallo! Können Sie mich verstehen?«
Keine Reaktion.
Ich versuche es auf Englisch. Keine Antwort. Kein Kollege bei der Münchner Berufsfeuerwehr spricht Rumänisch. Also brauchen wir jetzt schnellstens Hilfe von außen. Am Münchner Flughafen gibt es einen internationalen Übersetzerdienst, der für die Behörden, die Polizei oder die Ärzte am Airport Dolmetscher für nahezu alle Sprachen der Welt vermittelt. So bekommen wir rasch einen Dolmetscher, der zu dem Notfalltelefonat hinzugeschaltet wird.
Ihm gelingt es, dem Mann am Telefon einige Angaben zu entlocken. Er heißt Oleg, ist 48 Jahre alt und arbeitet als ungelernter Bauhelfer bereits seit Wochen in München auf einer Baustelle. Sein eintöniges Leben spielt sich anscheinend ausschließlich an seinem Arbeitsplatz ab. Tagsüber auf der Baustelle, nachts im daneben stehenden Wohncontainer. Er hat das Areal seither offenbar kein einziges Mal verlassen. Jedenfalls kennt er weder den Stadtteil noch die Straße, in der er sich aufhält.
Es gibt wahrscheinlich viele solche Schicksale in der reichen Millionenstadt München. Nur selten werden sie publik, und wenn, dann eher durch Zufall.
Vor einigen Jahren zum Beispiel häuften sich in der Umgebung einer Großbaustelle für ein künftiges Luxushotel im Münchner Norden die Diebstähle aus Brotcontainern der umliegenden Bäckereien. Der Zoll fand damals heraus, dass rund 40 ausländische Bauarbeiter über Wochen keinen Lohn mehr bekommen hatten. In den Nächten mussten sie Brot stehlen, um nicht zu verhungern. Ihre Pässe hatte man ihnen abgenommen. Ein Fall von moderner Sklaverei, der damals die Stadt erschütterte und den verantwortlichen Subunternehmer hinter Gitter brachte. In Anbetracht dieses Elends verzichteten die Zollbeamten zunächst sogar auf alle Vernehmungen, legten ihr Geld zusammen und spendierten den abgemagerten Männern erst einmal einen großen Stapel belegte Semmeln.
Auch unser rumänischer Patient ist offenbar solch ein Mann, der sein Leben lang hart körperlich gearbeitet hat und seinen Fleiß nun mit unerträglichen Rückenschmerzen und massiven Bewegungseinschränkungen bezahlen muss. Er kann sich jedenfalls nicht mehr rühren. Die Beschreibung seines Aufenthaltsortes ist ziemlich mager. Er liegt in einem Baucontainer, kann durchs Fenster die markante Hochhaussilhouette des sogenannten O2-Towers und viele Fahnen am Rand der Baustelle sehen. Ende der Beschreibung.
Um die Suche abzukürzen, bitten wir die Gelben Engel um Hilfe. Der Rettungshubschrauber »Christoph1« steigt auf, überfliegt die Umgebung des Towers und meldet schon kurz darauf einen Treffer: eine Baustelle ganz in der Nähe des Olympiageländes, an der Fahnen flattern! Schon rücken die Kollegen der nahen Feuerwache aus. Sie finden den Bauarbeiter in einem beklagenswerten Zustand in einem Baucontainer. Oleg ist nicht, wie zunächst angenommen, unglücklich gestürzt, sondern hat sich einen massiven Bandscheibenvorfall mit beginnenden Lähmungserscheinungen zugezogen. Noch an Ort und Stelle behandelt der Notarzt zunächst
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