Notruf 112
welche Richtung unser Gespräch gehen wird.
»Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Grüß Gott!«
Keine Antwort. Nur ein verlegenes Kichern. Also noch mal: »Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Was kann ich für Sie tun?«
»Ja. Hallo. Ich hätte mal eine Frage …«
Eine junge, schüchterne Mädchenstimme. Eine Schülerin wahrscheinlich, bestimmt noch nicht volljährig.
»Ja gern. Nur heraus mit der Sprache.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin …«
Im Hintergrund lacht sich gerade jemand schlapp. Es klingt, als ob er hinter seiner vor den Mund gepressten Hand vor Vergnügen fast erstickt.
»Hör doch mal auf, Mensch. Jetzt halt die Klappe«, faucht das Mädchen genervt und wendet sich wieder mir zu: »’tschuldigung. Das ist nur mein Freund.«
Sieh mal an, das scheue Rehlein kann auch Drache sein!
»Kein Problem. Also, worum geht’s denn?«
»Das ist nämlich so … Also, ich weiß wirklich nicht … Es ist mir etwas peinlich.« Pause.
Vielleicht zieht die geduldig-väterliche Art?
»Wenn ich Ihnen helfen soll, müssten Sie mir jetzt sagen, worum es geht. Dann finden wir auch sicher eine Lösung.«
Sie holt tief Luft und ich kann im Geiste förmlich sehen, wie sie sich kerzengerade hinsetzt. »Also, ich habe gerade mit meinem Freund geschlafen. Und jetzt ist das Kondom weg.«
»Sie meinen, das Kondom ist geplatzt?«
»Nein. Es ist weg.«
»Wie weg?«
»Na ja. Mein Freund hat’s wohl verloren und jetzt steckt es irgendwo in mir drin und ich bring’s halt nicht mehr heraus.«
Uuups. Wie unangenehm. Ich verkneife mir ein Schmunzeln und sehe auf die Uhr. Um 20 Uhr hat keine Arztpraxis mehr auf.
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
»16«, antwortet sie. Also minderjährig. Sie wird ihre Gründe haben, warum sie das lieber mit einem wildfremden Feuerwehrmann als mit ihrer Mutter oder sonst einer Vertrauensperson bespricht.
Ich suche meiner jungen Patientin also die Adressen der Frauenklinik bzw. Bereitschaftspraxen heraus und rate ihr, nach Möglichkeit sofort eine solche Ambulanz aufzusuchen. Ab dem 15. Lebensjahr haben gesetzlich versicherte junge Mädchen heute ja eine eigene Versichertenkarte und können ohne Kenntnis und Einwilligung der Eltern zum Frauenarzt gehen.
»Dort wird man Ihr kleines Problem bestimmt ganz schnell lösen und Sie auch gut beraten. Alles Gute«, beruhige ich sie.
»Mach ich. Danke«, sagt sie und legt hörbar erleichtert auf.
Ganz schön mutig, die junge Dame. In ihrem Alter hätte ich mich vor lauter Scham eher aufgelöst, als am Notruf der Feuerwehr derart intime Fragen zu erörtern. Sie werden eben schneller erwachsen heute, die jungen Mädchen.
Bauchgefühl
Ein Arbeitskreis aus unseren eigenen Reihen hat kürzlich lange und oft getagt, um herauszufinden, ob sich Vorteile aus einer sogenannten Standardisierten Notrufabfrage – kurz SNA genannt – ergeben könnten. Dabei handelt es sich um eine Art Allround-Abfrageschema für alle Lagen, das unter anderem den Vorteil hätte, dass jeder Disponent die gleichen Fragen stellen würde. Zudem ließe sich die Statistik am Ende genauer erfassen. Der Grundgedanke ist in der Tat verlockend. Wie angenehm wäre es, durch gezielte und vorgegebene Fragen unseren Anrufern oder Patienten in 60 Sekunden ein komplettes Meldebild zu entlocken, in dem ihre Notfallsituation klar umrissen ist mit allen notwendigen Informationen für den Einsatz.
Die Theorie hat nur einen Haken: Sie würde in der Praxis nicht immer funktionieren. Weil wir es nicht selten mit Menschen in absoluten Ausnahmesituationen zu tun haben. Die meisten Menschen rufen – statistisch gesehen – vielleicht ein- oder zweimal in ihrem Leben den Notruf 112. Dann sind sie extrem im Stress und halten sich garantiert nicht an Abfragekataloge.
Schon bei der Bestellung eines einfachen Krankentransportes muss ich selbst dem medizinisch-pflegerischen Fachpersonal in den Kliniken immer wieder klarmachen, dass ich in der Eingabemaske gern oben anfangen und unten aufhören würde. Zuweilen kommt es uns so vor, als ob die Stationen ausgerechnet immer genau die Kollegen oder Kolleginnen ans Telefon schicken, die am schlechtesten Deutsch sprechen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
Bei der Standardisierten Notrufabfrage wäre es natürlich möglich, jederzeit aus den vorgegebenen Fragen auszusteigen. Wer nämlich einmal einen Menschen am Telefon hatte, der mit dem Strick um den Hals auf der Leiter steht, dem gerade die Wohnung abbrennt, dessen
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