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Notruf 112

Notruf 112

Titel: Notruf 112 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Seifert , Christian
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lang möglichst aufrecht an seinem Küchentisch gesessen oder ist unruhig hin und her gelaufen und hat gehofft, die Symptome würden von allein verschwinden. Seine Lippen, die Schleimhäute und die Nägel zeigen bereits eine leicht bläuliche Färbung – typische Symptome des fortgeschrittenen Stadiums. In diesem Zustand hätte er jederzeit einen unter diesen Umständen wahrscheinlich tödlichen Herz-Kreislauf-Stillstand erleiden können.
    Als sie ihn aufrecht sitzend in den Rettungswagen schieben, entschuldigt er sich immer wieder »für die Umstände, die ich Ihnen mache«. Die Leiden der einsamen alten Menschen, die oft so rührend bemüht sind, niemandem zur Last zu fallen, gehen mir immer wieder zu Herzen.
    Wenn der Notarzt da ist, heißt das jedoch nicht, dass immer das nächstgelegene Krankenhaus angefahren wird. In anderen Bundesländern ist das Standard. Bei uns leider nicht. Wir fahren in der Regel nur Krankenhäuser an, die ein freies Bett gemeldet haben. Und so sind die Disponenten darauf angewiesen, dass die Kliniken freie Betten melden und diese uns auf der sogenannten Bettenmaske angezeigt werden. Intensivbetten und Betten für spezielle Notfälle wie Schlaganfall, Schwerbrandverletzte oder Vergiftungen sind häufig Mangelware. Wenn wir ein solches Bett brauchen, melden wir den Patienten an. Besser gesagt: Wir würden ihn gern anmelden. Denn bei der Rücksprache mit der Klinik hören wir nicht selten: »Das Bett wurde anderweitig belegt. Es ist nicht mehr frei.« Zuweilen müssen wir für einen einzigen Patienten 15 (!) Krankenhäuser anrufen, bis wir ihn endlich adäquat untergebracht haben. Manchmal gelingt es uns jedoch nicht, Münchner Patienten auch in einem Münchner Krankenhaus unterzubringen. Dann müssen wir in ein umliegendes Krankenhaus ausweichen. Ich erinnere mich an einen 85-jährigen Patienten mit Lungenödem, den wir mit dem Notarztwagen aus dem Stadtteil Hasenbergl über 50 Kilometer weit nach Pfaffenhofen an der Ilm gefahren haben. Eine Katastrophe für die 82-jährige Ehefrau, die keine Angehörigen und keinen Führerschein hatte. Sie hat bitterlich geweint.
    Wenn alle Stricke reißen, haben wir nur noch einen Trumpf im Ärmel: die Zwangsbelegung. Damit können wir die Klinik zwingen, unseren Patienten zumindest erstzuversorgen und anschließend in eine andere Klinik zu verlegen. Diese Gespräche sind nicht gerade angenehm. Noch sehr viel unangenehmer aber ist es, den Angehörigen zu erklären, warum wir ihr Kind, den Vater oder die Oma ans andere Ende der Stadt verlegen müssen.

Der Todgeweihte
    Ein Disponent der Leitstelle sollte sich schon recht gut auskennen in der Stadt, in der er lebt und arbeitet und in der er sich für das Wohl der Bürger verantwortlich fühlt. Wenn zur guten Ortskenntnis dann auch noch ein ausgeprägter Orientierungssinn, gepaart mit schneller Auffassungsgabe, Erinnerungsvermögen und einem kleinen Quäntchen Glück, kommen – dann haben selbst die Todgeweihten in nahezu aussichtsloser Lage noch eine große Chance. Wie dieser außergewöhnlich dramatische Fall sehr eindrucksvoll beweist:
    An einem Samstagnachmittag beschäftigt sich der Kollege neben mir gerade mit der Aufnahme eines Notfalls für die Integrierte Leitstelle im benachbarten Landkreis Fürstenfeldbruck. Die Münchner Rettungswagenbesatzung startet mit Blaulicht und meldet sich ordnungsgemäß ab: »Wir sind jetzt auf dem Weg.«
    Wenige Minuten später nimmt derselbe Kollege den Notruf einer Frau an: »Ich glaube, wir brauchen einen Notarzt.«
    »Was heißt das, Sie glauben?«
    »Na ja, auf dem Sportplatz nebenan ist irgendwas los. Ich sehe es von meinem Fenster aus.«
    »Ohne eine etwas genauere Beschreibung kann ich Ihnen keinen Notarzt schicken. Gehen Sie bitte dorthin und sagen Sie mir, was Sie da sehen.«
    »Na gut. Ich gehe mal schnell hin.«
    Eine halbe Minute später sagt die Frau: »Da liegt einer auf dem Boden und sie drücken auf ihm herum!« Scheinbar ein Herz-Kreislauf-Stillstand.
    »Alles klar. Notarzt ist unterwegs.«
    An diesem Punkt beginnen wir normalerweise mit der Telefonreanimation, während der Einsatz bereits anläuft. Denn in solchen Fällen geht es immer um Leben und Tod. Der Anrufer bekommt von uns eine genaue Anleitung, wie er als Laie eine Herz-Lungen-Wiederbelebung durchführen kann. Die angeleitete Telefonreanimation ist in vielen Fällen erfolgreich, erfordert allerdings, dass der Ersthelfer körperlich und vor allem nervlich in der Lage ist, unseren

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