Notruf 112
können Sie ja wohl hören!«
Oho, werte Dame! Was ist denn das für ein hässlicher Ton?
»Ich höre ein Kind weinen. Ich kann aber beim besten Willen von hier aus nicht beurteilen, ob das Ihr Sohn ist«, antworte ich etwas gereizt und merke sofort: Fehler! Ich bin ihr soeben geradewegs ins Messer gelaufen.
»Also wollen Sie jetzt mit mir diskutieren oder endlich mal einen Rettungswagen schicken? Wir zahlen viel Geld für die private Versicherung und da hat man doch wohl ein Recht auf adäquate Versorgung. Komm mein, Schatz, halt mal still. Der nette Doktor kommt gleich …«
Ich frage genau ab, ob dem Sechsjährigen vielleicht übel ist, ob er Bewegungseinschränkungen oder irgendwelche Ausfallerscheinungen zeigt. Nichts davon ist der Fall. Das Weinen des Kindes ist mittlerweile einem hysterischen Plärren mit Schluchzen und Schluckauf gewichen. Da war der Schreck wohl größer als der Schmerz. Leichtsinnigerweise teile ich der Dame meine unmaßgebliche Einschätzung mit. Achtung! Volle Deckung! Ich habe nämlich plötzlich eine fauchende Tigerin am anderen Ende der Leitung:
»Sagen Sie mal, was bilden Sie sich eigentlich ein? Sie sind doch wohl kein Arzt, oder? Kriege ich jetzt endlich Hilfe oder nicht?«
Ich beschließe, ihren giftigen Ton einfach zu überhören und frage:
»Wo sind Sie?«
Sie nennt eine Adresse am Isarkanal. Ich fasse es nicht, die streitbare Lady steht genau vor einer chirurgischen Klinik samt Notfallambulanz, in der ihr Kind bestens aufgehoben wäre.
»Würden Sie bitte mit Ihrem Kind dorthin gehen?«, rate ich ihr und fange mir sofort die nächste Abfuhr ein.
»Es ist eine Frechheit, was Sie mir hier zumuten. Wofür werden Sie eigentlich bezahlt? Ich habe hier, wie gesagt, ein verletztes Kind und ich verlange auf der Stelle einen Rettungswagen. Ich kann Ihnen jede Menge Ärger machen …«
Das reicht jetzt. Ich kann auch anders, gute Frau:
»Und jetzt hören Sie mir mal gut zu! Sie nehmen jetzt Ihr Kind und gehen auf der Stelle in diese Klinik. Sie könnten schon längst drin sein. Für eine leichte Schürfverletzung am Kopf bekommen Sie unter diesen Umständen keinen Rettungswagen. Der wird nämlich woanders dringender gebraucht. Haben Sie das verstanden oder war das jetzt zu viel Information für Sie?«
Den letzten Halbsatz hätte ich mir vielleicht lieber sparen sollen. Wenn diese Zicke sich jetzt über mich beschwert und das Band auf der Suche nach verbalen Entgleisungen abgehört wird, habe ich bald einen Termin bei unserem Leitstellenchef.
Statt einer Antwort legt sie empört schnaufend auf. Auch recht.
Später habe ich in der Klinikambulanz mal nachgefragt. Es war nur ein kleiner Kratzer, der mit einem Pflaster und einem Gummibärchen schnell erledigt war. In den Tagen darauf habe ich auf die Beschwerde gewartet, die aber wider Erwarten ausblieb. Mal wieder viel Wind um nichts. Typisch.
Atemnot
Im Gegensatz zu dem gerade beschriebenen überzogenen Anspruchsdenken gibt es natürlich auch das andere Extrem, und das hat wahrscheinlich schon viele Menschen das Leben gekostet. Ich spreche von der älteren Generation und auch von der Landbevölkerung, die zuweilen so lange mit einem Notruf wartet, bis es (fast) zu spät ist. Diese Erfahrung machen wir beinahe jeden Tag. Ein erschütterndes Beispiel zum Thema Leidensfähigkeit habe ich selbst erlebt.
An einem Sonntagnachmittag meldet sich ein 86-jähriger Rentner, der sich mehrfach für seinen Anruf entschuldigt, betont, auf keinen Fall zur Last fallen zu wollen, und dennoch um einen Hausbesuch des Arztes bittet. Er spricht von leichten Atemproblemen und etwas Husten. Eine Erkältung vielleicht. »Aber wie gesagt, es hat keine Eile. Ich kann warten.«
Ich vermittele ihn also an den Ärztlichen Bereitschaftsdienst, bitte aber die Kollegen, ihn vorsichtshalber vorzuziehen. Er hat nämlich in der Tat leicht kurzatmig geklungen und ich konnte auf die Entfernung nicht beurteilen, ob das nur an der Aufregung lag oder doch einen krankheitsbedingten Hintergrund hat.
20 Minuten später meldet sich die diensthabende Ärztin aus der Wohnung des alleinstehenden Rentners und bestellt einen sofortigen Transport mit Notarztbegleitung in die Klinik. Der alte Herr schwebt nämlich in Lebensgefahr. Er leidet unter Herzinsuffizienz und hat ein massives Lungenödem. Das Wasser in seiner Lunge hat bewirkt, dass er seit drei Tagen und Nächten wegen massiver Erstickungsgefühle nicht mehr hat liegen können. Er hat also geschlagene drei Tage
Weitere Kostenlose Bücher