Notruf 112
Geschäfte, Büros und Praxen blieben notgedrungen geschlossen. Straßenbahnen blieben mitten auf Kreuzungen stehen, U- und S-Bahnen saßen im Tunnel fest. Autofahrer flippten aus und brüllten sich an, mancherorts brach der Berufsverkehr zusammen. Das ist der Stoff, aus dem der Wahnsinn ist. Und wir steckten mittendrin.
Die Integrierte Leitstelle ist (wie alle Münchner Feuerwachen, Polizeiinspektionen und Krankenhäuser) durch dieselbetriebene Notstromaggregate abgesichert. Der Rechner selbst – das Herzstück unserer Einsatzzentrale – hat immer so viel Reststrom, dass momentane Schwankungen bis zum Einspringen der Notstromaggregate ihm nichts anhaben können. Selbst ohne Notstrom könnten wir mit Batteriebetrieb noch mehrere Stunden weiterarbeiten.
Um 7.01 Uhr brach also die Münchner Stromversorgung zusammen. Zwei Minuten später überschwemmte uns die Notrufflut. Die Kollegen der letzten Schicht hatten gerade das Haus verlassen. Aber die neuen Kollegen, deren Dienst um sieben Uhr beginnt, waren alle schon da. Per Alarmgong und Wachdurchsage rief ich die Kollegen in die Leitstelle: »Der Bereitschaftsblock mit Headsets sofort in die Leitstelle!« Headsets sind die sogenannten Kopfgeschirre, die die Disponenten tragen, um beim Sprechen die Hände frei zu haben.
In den meisten bayerischen Leitstellen könnte man jetzt lange auf die Verstärkung warten. Manchmal so lange, dass sich der Notfall längst erledigt hat, wenn die ersten zusätzlichen Kollegen von sonst woher eintrudeln.
Unser derzeitiges Schichtsystem dagegen ermöglicht es uns, innerhalb von zwei bis drei Minuten unsere ohnehin zehn bis zwölf ständig besetzten Funkplätze schlagartig auf 27 zu erhöhen. Dazu nehmen wir zehn zusätzliche Abfrageplätze – kurz ANA genannt – in Betrieb. Die Arbeit in einer Rettungsleitstelle ist immer eine Teamleistung. Der Einzelne reißt da gar nichts. In Notfällen wie diesem ist dieser Teamgeist unschlagbar. Da halten wir zusammen. Da passt kein Blatt Papier mehr zwischen uns.
Innerhalb der nächsten Dreiviertelstunde brachen annähernd 1000 Notrufe über uns herein. Und wie immer in solchen Extremfällen ist es das größte Problem, die echten Notrufe von den aus Bürgersicht verständlichen, aber momentan völlig sinnlosen Anfragen zu trennen. Kleiner Auszug gefällig?
»Wie lange dauert das denn noch?« – »Wissen wir selbst nicht.«
»Ist das ein Terroranschlag?« – »Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte.«
»Mein Kühlschrank (ersatzweise Weinschrank, Gefrierfach, EDV-Klimaschrank etc.) ist ausgefallen. Was soll ich jetzt tun?« – »Nichts. Lassen Sie die Tür zu, dann bleibt die Kälte drin.«
»Mein Garagentor und sämtliche Jalousien gehen nicht auf.« – »Dann bleiben die jetzt eben mal zu. Sorry. Sie blockieren die Notrufleitung.« – »Das ist ja unerhört! Ich werde mich beschweren, Sie werden …« – »Jaja, schon gut. Auf Wiederhören.«
Ich bin mir bewusst, dass ich den einen oder anderen mit meiner brüsk wirkenden Art vermutlich sehr verärgert habe. In einigen Fällen habe ich sogar mitten im Satz aufgelegt. Aber es ging einfach nicht anders. Denn die Notrufe gingen jetzt im Sekundentakt ein.
Einen vergleichbaren Ansturm hatten wir am 11. September 2001 erlebt. Damals mussten wir sogar ein Bürgertelefon schalten, da die enorme Zahl von Anfragen über mehrere Tage neben dem normalen Leitstellenbetrieb nicht mehr zu bewältigen war. Die grauenhaften Bilder des Terrors in New York und der einstürzenden Türme des World Trade Center hatten die Münchner so sehr verunsichert, dass sie von uns sogar Auskunft verlangten über die nächstgelegenen öffentlichen Schutzräume, über Schutzkleidung und Atemschutz für die ganze Familie im Falle eines terroristischen Angriffs auf München.
Jeder der telefonierenden Disponenten nahm in den ersten 45 Minuten des Stromausfalls mindestens 80 Anrufe an. Das Ziel war wie immer, die Anrufe so schnell wie möglich zu bearbeiten. Denn zwischen all den Allerweltsfragen verbargen sich echte Notfälle, die Feuerwehr und Rettungsdienste noch Stunden später beschäftigten. Wir lösten vorsichtshalber Vollalarm für die rund 800 Kollegen der 21 Abteilungen der Freiwilligen Feuerwehr München-Stadt aus. Wir ließen die Feuerwehrgerätehäuser besetzen und sorgten dafür, dass auch die zehn Wachen der Berufsfeuerwehr wieder besetzt wurden. Auch die Kräfte der Freiwilligen Feuerwehr wurden genauso eingesetzt wie die Berufsfeuerwehr, denn
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