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Notruf 112

Notruf 112

Titel: Notruf 112 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Seifert , Christian
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notwendig, immer noch einmal die Adressdaten zu kontrollieren. Ich frage daher routinemäßig noch einmal nach: »Hauptstraße 116, ja?«
    Mit größter Mühe presst sie heraus: »… 16 …«
    »Nicht 116?«
    »… 16 …«
    Hier stimmt irgendwas nicht. Ich sehe mir die im System angegebene Adresse Hausnummer 116 genauer an. Ein frei stehendes Einfamilienhaus in einer dieser typischen Wohnsiedlungen entlang der Ortsdurchfahrt. Haus Nummer 16 am anderen Ende sieht allerdings ungefähr genauso aus. Mist. Ist sie kürzlich vielleicht umgezogen und kann sich in ihrer Not nicht an die neue Adresse erinnern?
    »Frau Fender, sind Sie allein im Haus? Können Sie sich Hilfe holen?«
    »Allein …«
    Mittlerweile geht es der Patientin so schlecht, dass ich bezweifele, ob sie überhaupt noch die Kraft haben wird, uns die Tür zu öffnen. Ich höre eigentlich immer auf mein Bauchgefühl, und das sagt mir in jener Nacht ganz klar: Alarmier zusätzlich zum Notarzt lieber noch eine Einheit Feuerwehr für die sehr wahrscheinlich notwendige Wohnungsöffnung. Aber wohin soll ich die Kollegen schicken? 16 oder 116 – das ist hier die Frage. Über Funk schildert ich den Einsatzkräften mein Problem. Die Kollegen teilen sich daraufhin auf. Bei Hausnummer 116 steht der Name »Fender«. Das Übermittlungssystem hat in diesem Fall tatsächlich die richtige Adresse gespeichert.
    Die Feuerwehrkollegen öffnen die Tür in Sekundenschnelle mit dem Sperrwerkzeug. Im ersten Stock finden sie Frau Fender. Sie ist an der Schwelle zum Bad zusammengebrochen. Das Gesicht ist sehr weiß, die Lippen bereits blau. Sie atmet nicht mehr. Das Notarztteam beginnt sofort mit der Reanimation. Doch alle Bemühungen bringen Herz und Atmung nicht mehr in Gang. Frau Fender ist tot. Erstickt am letzten ihrer schweren Asthmaanfälle, einer Krankheit, an der sie seit vielen Jahren litt. Und keine Macht der Welt kann sie zurückholen. Wir sind zu spät gekommen. Sie ist nur 37 Jahre alt geworden.
    Ich denke oft darüber nach, wie schwer es für die Angehörigen sein muss, wenn der Notarzt geht und irgendwann die große Stille kommt. Und mit ihr die Erkenntnis, dass der geliebte Mensch nie wieder durch diese Tür nach Hause kommen, nie wieder lachen, nie wieder sprechen wird.
    Ein Menschenleben aufzugeben ist auch für die Retter immer wieder niederschmetternd – vor allem dann, wenn es um relativ junge Menschen geht, die noch so viele schöne Jahre vor sich gehabt hätten.

Szenen einer Ehe
    Auf dem Klingelschild steht »Klefisch«. Hier sind wir wohl richtig. Wir stehen im zweiten Stock eines typischen Münchner Mietshauses in einem alten Arbeiterviertel. Renovierungsbedürftig wie so viele Häuser in dieser Gegend. Wer hier wohnt, stapelt nicht gerade die Tausender im Nachttisch. Ich drücke auf den Klingelknopf. Schon wird die Tür aufgerissen. Eine etwa 65-jährige Frau. Ihre Augen funkeln misstrauisch und aggressiv in ihrem roten, runden Gesicht. Die schlecht blondierten, kurzen Haare sträuben sich nach allen Seiten. Die stämmigen, kurzen Beine stecken in reichlich engen Hosenbeinen. Unter dem ehemals weißen, fleckigen Pullover wölben sich unübersehbar fulminante Speckröllchen unter einem wogenden Busen. Sie atmet schwer und wirkt, als hätte sie soeben einen Ringkampf gewonnen. Im vergilbten Flur riecht es überwältigend nach Zwiebeln und kaltem Zigarettenrauch.
    »Hallo, Frau Klefisch. Ihr Mann hat uns angerufen. Jemand soll verletzt sein. Was ist denn passiert?«
    »Ja, was soll schon sein? Alles halb so schlimm. Da hinten sitzt er«, mault sie übellaunig und deutet mit dem Daumen über die Schulter in das winzig kleine, heillos vollgestopfte Wohnzimmer am Ende des Flurs.
    Auf einer abgefieselten Plüschcouch hockt der Verlierer des Ringkampfes. Ein einfacher, hagerer Mann mit einem blassen, müden Gesicht, 70 Jahre alt – von der Statur her allenfalls die Hälfte seiner angetrauten Wuchtbrumme. Um einen Arm hat er ein Tuch geschlungen. Darunter kommt eine ziemlich großflächige, aber nicht sehr tiefe und leicht geschwollene Abschürfung zum Vorschein. »Wie ist denn das passiert, Herr Klefisch?«
    Er öffnet den Mund, kommt aber nicht mehr zu Wort.
    »Er ist gefallen «, antwortet seine Frau an seiner Stelle und wirft ihm dabei bohrende Blicke zu, die ihn augenblicklich verstummen lassen. Er senkt den Kopf und presst die Lippen zusammen.
    »Wo sind Sie denn gefallen, Herr Klefisch?«
    »Im Bad«, antwortet sie sofort an seiner Stelle.
    Was ist

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