Notruf 112
hier eigentlich los? Der Kollege deutet meinen skeptischen Blick goldrichtig und lockt die resolute Frau unter einem Vorwand in die Küche: »Ich würde gern die Patientendaten aufnehmen. Wo kann ich mich einen Moment hinsetzen zum Schreiben? Wie ist Herr Klefisch versichert?«
Endlich bin ich mit dem Patienten einen Moment allein.
»Herr Klefisch, was ist denn wirklich passiert?«
Statt einer Antwort steigen ihm Tränen in die Augen. Er atmet schwer. Seine Lippen zittern.
»Wissen Sie, Sie ist eigentlich eine gute Frau. Aber manchmal ist sie einfach nicht mehr sie selbst. Sie wird so schnell böse und regt sich immer auf. Das ist so, seit unsere einzige Tochter vor drei Jahren verunglückt ist. Ein Autounfall. Sie war sofort tot …« Die Stimme versagt ihm.
Er lenkt vom Thema ab, scheint sich in Grund und Boden zu schämen. Ich lasse ihm ein bisschen Zeit und frage dann geradeheraus: »Herr Klefisch, werden Sie von Ihrer Frau misshandelt?«
Er nickt heftig, eine Träne fällt auf sein mageres Hosenbein. Ich desinfiziere und verbinde ihm nun schweigend seine Wunde. Die weitere Behandlung kann später sein Hausarzt übernehmen.
Männer, die von Frauen geschlagen werden, sind gerne Gegenstand gemeiner Witze. Wenn man ihr Leid jedoch mal aus nächster Nähe miterlebt, bleibt einem das Lachen augenblicklich im Hals stecken. Während ich meinen Notfallkoffer wieder zusammenpacke und überlege, ob und wie ich ihm helfen könnte, nimmt er allen Mut zusammen: »Könnten Sie mich vielleicht ins Krankenhaus mitnehmen? Ich meine, nur für einen Tag oder so? Ich muss mal aus der Schusslinie. Sie haben ja selbst gesehen, was hier los ist …«
Grundgütiger! Was kann ich nur für ihn tun? Diese kleine Wunde ist ja eigentlich kein Grund, ihn mitzunehmen … Da geht die Küchentür auf. Die Gattin ist im Anmarsch. Ohne groß zu diskutieren, erkläre ich ihr: »Frau Klefisch, wir nehmen Ihren Mann vorsichtshalber mit ins Krankenhaus. Der Arzt soll ihn sich mal anschauen und der Arm sollte auch geröntgt werden …«
Wie ich das allerdings dem Arzt erklären soll, weiß ich da selbst noch nicht.
Herr Klefisch lächelt mich verschwörerisch an. Ohne noch lange mit der keifenden Frau zu diskutieren, begleiten wir den Rentner aus der Wohnung die Treppe hinunter und in unser Auto. Dort schlage ich mit Schwung die Tür zu. Endlich Ruhe. Und Herr Klefisch atmet auf.
Auf der Fahrt ins Krankenhaus erfahren wir dann, dass seine Frau ihn im Streit in der Küche geschlagen und absichtlich zu Boden gestoßen hat. Er ist gestürzt und hat sich dabei den Arm an der rauen Wand aufgeschrammt. Und das ist nicht das erste Mal gewesen, dass sich die Furie an ihrem Mann vergriffen hat. Niemals jedoch hat Herr Klefisch gewagt, sich zu wehren oder gar die Hand gegen sie zu erheben. In seiner Not und nur um der Wut seiner Frau zu entgehen, hat er diesmal bei uns Hilfe gesucht. Eigentlich wäre er eher ein Fall für die Polizei, aber das will Herr Klefisch, der vor lauter Scham ohnehin schon fast im Boden versinkt, ihr auf gar keinen Fall antun: »Ich kann doch nicht meine eigene Frau anzeigen. Das glaubt mir ja auch kein Mensch…«
Gewalt in der Ehe, in Familien oder in Beziehungen ist ein Dauerthema in allen Notrufzentralen. Die große Scham der Opfer – noch dazu in dieser eher seltenen Konstellation und im fortgeschrittenen Alter – verhindert in vielen Fällen professionelle Hilfe. Zumal es Männern naturgemäß ungemein schwerfällt zuzugeben, dass sie unter der Fuchtel einer Frau stehen.
Was wohl aus dem Ehepaar Klefisch geworden ist? Ich habe dem Doktor in der Klinik später einfach die Wahrheit gesagt. Er hatte dafür das größte Verständnis und ich hoffe, er hatte auch einen guten Rat und einen guten Psychologen. Ob das Ehepaar Klefisch wohl eine Therapie gemacht hat? Oder ob sie sich vielleicht längst getrennt haben? Ich weiß es nicht. In dieser unglücklichen Familie scheint es wohl nur noch Opfer zu geben.
Bei meiner Heimkehr am nächsten Morgen habe ich meine Frau und meine Kinder etwas länger als sonst ganz fest und dankbar gedrückt.
Horst aus dem Forst
Die Großstadt München ist bekanntlich in weiten Teilen umgeben von ausgedehnten Waldgebieten, die lediglich von mehr oder weniger befahrbaren Forststraßen und vielen Spazierwegen oder Trampelpfaden durchzogen sind. Hier einen Verletzten zu finden ist schwierig bis unmöglich. Darum dürfen die Waldarbeiter auch grundsätzlich nur mindestens zu zweit arbeiten. Es
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