Notruf 112
sollte immer jemand in der Lage sein, rasch Hilfe zu holen. Um Feuerwehr und Rettungsdienst auf dem schnellsten Weg zum Einsatzort zu bringen, wurden die Waldgebiete vor einigen Jahren in Planquadrate eingeteilt. Innerhalb dieser Quadrate gibt es wiederum Lotsenpunkte (zum Beispiel ein Haus, eine Kreuzung, eine Trafostation oder eine Bushaltestelle), an denen die Einsatzkräfte erwartet und dann auf dem kürzesten Weg zum Verletzten geführt werden. Zudem haben alle Waldarbeiter ein GPS-Navigationsgerät dabei, um jederzeit ihre Position bestimmen zu können. Damit alles klappt, üben die Forstbehörden mit ihren Mitarbeitern regelmäßig den Ernstfall – und zwar so echt wie möglich mit stöhnenden Statisten und allerhand angeschminkten, zum Teil ziemlich besorgniserregenden Verletzungen. Lediglich die Verantwortlichen der zuständigen Einsatzzentralen, die die entsprechenden Lotsenpunkte bei einem Notfall eingeben und einen Rettungswagen losschicken müssen, sind in der Regel über anstehende Übungen informiert. Die Besatzungen der Rettungswagen dagegen werden nicht eingeweiht und sind damit der wesentliche Bestandteil dieser möglichst realitätsnahen Übungen. Ein Umstand, der einen Waldarbeiter namens Horst im Winter letzten Jahres ernsthaft das Fürchten lehrte.
Es war ein kalter, aber sonniger Dezembertag. Im Wald lag nur eine dünne Schneedecke. Wie geschaffen für eine Übung. Das ausgewählte Szenario kam der Realität sehr nahe. Die Regie sah vor, dass sich mitten im Staatsforst im Münchner Norden ein Waldarbeiter mit der Motorsäge eine Schnittwunde am Fuß zugefügt hatte. Dafür wurde der Mann professionell geschminkt, die Wunde sogar mit echt wirkenden Plastilinfetzchen und Kunstblut täuschend echt hergerichtet. Durchaus eine ernst zu nehmende Verletzung, aber nicht lebensbedrohlich. Sonst hätten wir einen Notarzt mit Blaulicht oder gar einen Rettungshubschrauber losgeschickt. Bei diesen Übungen geht es jedoch hauptsächlich darum, dass der Patient möglichst schnell gefunden wird.
Unser Simulant Horst saß also mitten im Wald, fluchte und fror (das war echt!) und stöhnte vor Schmerz (ganz großes Kino). Laufen konnte er nicht mehr. Er gab sich wirklich die größte Mühe, seinen Schmerz realistisch darzustellen. Vielleicht ein bisschen zu viel Mühe. Denn die Retter bemerkten offenbar nicht, dass das hier nur eine Übung sein sollte. Die Kollegen legten dem bibbernden Horst also eine wärmende Goldfolie um, deckten die »Wunde« fachgerecht steril ab, stellten das Bein ruhig und legten dem Patienten einen sogenannten intravenösen Zugang. Das heißt: Sie schoben ihm eine echte Nadel in die Armvene und hängten ihm eine Infusion zur Kreislaufstabilisierung an. Da Horst keine gute Venen hatte, war das eine ziemlich üble Stocherei.
An diesem Punkt wurde es dem armen Horst langsam mulmig. Noch nie zuvor war er bei einer Übung gestochen worden. Doch er blieb tapfer seiner Rolle treu und ließ sich von zwei kräftigen Rettungsassistenten quer durch den Wald zum Rettungswagen am Lotsenpunkt schleppen. Und dann ging es direkt ab in die Klinik, wo der Patient ausgeladen und in die Notaufnahme gerollt wurde.
An diesem Punkt – dachte Horst – könnte die Übung ja mal langsam vorbei sein. Er setzte sich also auf und wollte aufstehen. Schon spürte er die Hand des besorgten Rettungsassistenten auf seiner Schulter und hörte dessen väterlich-gütige Stimme: »Schön ruhig liegen bleiben! Der Doktor kommt gleich.« Da war es um seine Geduld geschehen. In banger Erwartung weiterer Spritzen sprang der Ärmste vor den Augen der sprachlosen Retter und des gerade eingetroffenen Chirurgen von der Trage, zog sich die Nadel aus dem Arm, zückte sein Handy und rief nunmehr ernsthaft empört seinen Chef an: »Sagen Sie mal, wann ist denn diese Übung hier eigentlich vorbei? Ich bin jetzt im Krankenhaus und schon total zerstochen. Mir reicht das jetzt. Ich gehe jetzt heim.«
Es dauerte einen Moment, bis die Kollegen die Komik dieser Situation begriffen. Selten ist in einer Notaufnahme so laut gelacht worden. Und auch Horst lachte am Ende mit und trank auf unsere Kosten einen schönen steifen Grog – als kleine Entschädigung.
Das Theaterstück im Wald hatte natürlich ein kleines Nachspiel. Seither achten wir und auch die Forstbehörden streng darauf, dass die jeweils Verantwortlichen in den Leitstellen stets informiert sind und rechtzeitig eingreifen, damit die Übungen nicht aus dem Ruder laufen. Die
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