Notruf 112
etwas ungehalten ist und sich im Stich gelassen fühlt.
Und mir reicht es jetzt auch langsam. Wir müssen endlich diesen offenbar verwirrten und verletzten Mann finden, der dringend Hilfe benötigt. Also Anruf in der Klinik: »Liegt bei Ihnen ein Herr Rossegger, Gottlieb? Und wenn ja, würden Sie bitte mal nachsehen, ob er in seinem Zimmer ist?« Die Schwester am Telefon reagiert ein bisschen genervt, lässt aber dann den Hörer liegen und kommt nach einer Minute wieder zurück: »Herr Rossegger liegt in seinem Bett, da, wo er hingehört. Es geht ihm gut. Und er telefoniert. Zufrieden?«
Nein, Schwester. Ich bin absolut nicht zufrieden. Der anscheinend völlig desorientierte alte Herr telefoniert nämlich zum nunmehr siebten (!) Mal mit uns und klagt immer noch über Schmerzen.
Ich bitte die Schwester daher, ihm nun endlich ein Schmerzmittel zu bringen und ein bisschen besser auf ihn aufzupassen.
Die Ansage hat offenbar gewirkt. Herr Rossegger hat jedenfalls nicht wieder angerufen.
Der Neuhauser Feuersturm
Es war die Nacht zum 26. November 1994, ein Samstag. Und alle, die in jener Schreckensnacht dabei waren, werden sie nie wieder vergessen.
Ab 3.40 Uhr klingelten sämtliche Notruftelefone in der Feuerwehr-Einsatzzentrale gleichzeitig. Alle Anrufe kamen aus dem Stadtteil Neuhausen. Und alle Mitteiler waren in heller Panik.
»Die Herz-Jesu-Kirche brennt!«
»Hinter den Fenstern lodert Feuer!«
»Jetzt brennt der Dachstuhl!«
»Die Kirchenfenster platzen!«
»Das Türmchen ist explodiert!«
»Das Feuer greift auf die Häuser über. Um Gottes willen. Beeilt euch!«
Die Disponenten der alten Feuerwehr-Einsatzzentrale lösten binnen kürzester Frist Großalarm aus. Zuerst von den Feuerwachen 3 und 4 und später dann aus vielen Wachen der Stadt rasten die Fahrzeuge sternförmig los. Ein gigantischer Feuerball – weithin sichtbar über der Stadt – wies den nachgeforderten Einsatzkräften den Weg ins Herz Neuhausens.
Dieser Stadtteil ist ein sehr beliebtes, geschichtsträchtiges und lebendiges Münchner Wohn- und Geschäftsviertel mit gewachsenen Strukturen, vielen Lokalen und sehr schön sanierten Altbauten. Und mittendrin stand die Herz-Jesu-Kirche – eine der größten Münchner Kirchen in eher schlichter Bauweise und einfach weiß getüncht, aber voller Besonderheiten und unersetzlicher zeitgenössischer, spätmittelalterlicher und spätgotischer Kirchenkunst.
1944 war die katholische Kirche nach einem Bombentreffer schon einmal abgebrannt. Nach dem Krieg kaufte die Kirche für 200.000 Reichsmark die gesamte Holzkonstruktion des Kinos der SS-Wachmannschaften auf Hitlers Obersalzberg bei Berchtesgaden und baute daraus den neuen Dachstuhl der 65 Meter langen und 35 Meter breiten Kirche. Das alte, massive Gebälk war der Garant für eine fabelhafte Akustik. Dass genau diese dicken, alten Balken dem Gotteshaus einmal zum Verhängnis werden würden – das hatte damals nun wirklich niemand ahnen können. Berühmt war die Kirche auch durch ihren streitbaren ehemaligen Pfarrer geworden, der gegen alle Widerstände Tiersegnungen durchführte, Katzen liebte und öffentlich Ordensfrauen rügte, die Hühner in Käfigen hielten. Die Münchner jedenfalls liebten diesen unbeugsamen Mann und auch seine außergewöhnliche Kirche, die 1990 sogar der Dalai-Lama besucht hatte.
Und ausgerechnet diese Kirche – dicht umrahmt von bewohnten Altbauten – schien nun in Vollbrand zu stehen.
Im Funk hörte sich das anfangs noch nicht so dramatisch an und es sah auch zunächst gar nicht so aus. Ich war damals Angriffstruppführer vom Löschgruppenfahrzeug des zweiten Zuges der Feuerwache 4 in Schwabing. Noch während der Fahrt rüsteten wir uns mit Atemschutz aus. Als wir eintrafen, züngelte Feuer aus einer kleinen Luke im Dachstuhl.
Im Inneren der Kirche jedoch braute sich – für uns zunächst völlig unsichtbar – ein Inferno zusammen. Ein Feuersturm, wie ich ihn nie zuvor und auch danach nicht mehr erlebt habe. So etwas kannte ich bisher nur aus den Erzählungen unseres ehemaligen Branddirektors und späteren Chronisten Heinrich Schläfer, der uns jungen Feuerwehrleuten in der Ausbildung mit dem Enthusiasmus seiner großen Erfahrung vom Hamburger Feuersturm im Kriegsjahr 1943 berichtet hatte. Es handelt sich dabei um eine Rauchgasdurchzündung – besser bekannt als der gefürchtete Flashover, der immer dann entstehen kann, wenn sich bei enormer aufgestauter Hitze auf großer Fläche brennbare Gase entwickeln, die
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