Notruf 112
sich bei Luftzufuhr plötzlich entzünden. Der dadurch entstehende Sog zieht Sauerstoff an. Die Folge davon kann ebendiese explosionsartige Ausbreitung des Brandes sein. Mit verheerenden Folgen, wie wir gleich erleben würden.
Unser Zug war gerade vor dem Hauptportal der Kirche eingetroffen. Das Löschfahrzeug stand etwas links davon. Als wir ausstiegen, kam auf einmal Wind auf, der rasch zu Sturmstärke anschwoll und von einem bedrohlichen Rauschen begleitet war. Im Geiste hörte ich wieder die Worte unseres Ausbilders und wusste jetzt, was er mit einem Feuersturm gemeint hatte. Nur Sekunden später war die ganze Gegend in ein unheilvoll orangefarbenes Licht getaucht. Die gesamte Kirche war über die komplette Länge schlagartig in Flammen aufgegangen! 20 Meter hoch schoss die Feuerwand aus dem Dach.
In den Wohnhäusern ringsherum gerieten die Menschen in Panik. Sie flohen aus den Wohnungen. Über dem Viertel ging ein zweistündiger, glühender Ascheregen und Funkensturm nieder. Weit verstreut lagen faustdicke, glühende Trümmer auf der Straße. Wir sahen Menschen, die mit Brandlöchern in Nachthemden und Bademänteln herumirrten und ihre Freunde, Nachbarn und Angehörigen suchten. Kollegen und die Mitarbeiter der Rettungsdienste hatten alle Hände voll zu tun, um sie schnellstens aus der Gefahrenzone zu bringen.
Da die Kirche nicht mehr zu retten war, galt unsere ganze Sorge und Aufmerksamkeit von nun an den umliegenden Häusern. Hunderte Wohnungen waren in höchster Gefahr. Rings um die Kirche bauten rund 170 Feuerwehrleute alle erdenklichen Rohre und Wasserwerfer auf und kühlten die Fassaden und Dächer mit Millionen Litern Wasser. Die Hitze war so groß, dass das Wasser auf den heißen Fassaden verdampfte und viele Scheiben platzten. Die Straßenzüge um die Kirche herum waren in den gespenstisch orangefarbenen Nebel aus Feuer, Rauch und Wasserdampf gehüllt.
Zwei Stunden lang schirmten wir die Fassade eines Altbaus mit einem Wasservorhang ab. Dabei knieten ein Kollege und ich die ganze Zeit mit unserem B-Rohr – unserem größten tragbaren Löschrohr, das nur bei Großbränden eingesetzt wird und bis zu 800 Liter Wasser pro Minute ausstößt – vor der uns zugewiesenen Villa. Die ganze Zeit trugen wir dabei unsere 16 Kilogramm schweren Atemschutzgeräte, obwohl wir den Atemschutz gar nicht brauchten. Aber wir fanden einfach keine Zeit, die schwere Ausrüstung abzulegen. Die eisigen Wasserströme durchweichten sehr bald unsere Schutzkleidung, die noch bei Weitem nicht dem heutigen Standard entsprach. In kürzester Zeit waren wir nass bis auf die Haut.
Doch am Ende dieser dramatischen Nacht war unsere Strategie aufgegangen. Kein einziges Nachbarhaus wurde von den Flammen erfasst und es war bei vergleichsweise überschaubaren Sachschäden wie geborstenen Scheiben, in der Hitze zerschmolzenen Klingelschildern und Mülltonnen und angesengten Autolackierungen geblieben. Einen Großbrand dieses Ausmaßes inmitten derart enger Bebauung auf nur dieses eine Objekt zu begrenzen – das war in aller Bescheidenheit eine wahrhaft geniale Leistung.
Die Herz-Jesu-Kirche war allerdings auf der gesamten Länge ein Raub der Flammen geworden. Die fast 2000 Quadratmeter große, hölzerne Dachstuhlkonstruktion war komplett ins Kirchenschiff gestürzt. Kurz vor Ausbruch des Feuersturms war noch der kleine Kupfer-kirchturm mitsamt seiner goldenen Kugel senkrecht in den Himmel geschossen. So gewaltig war der Druck gewesen. In Hauseingänge und Mauernischen gedrückt, verfolgten Hunderte fassungsloser Neuhauser die mehrstündigen Löscharbeiten. Vielen liefen die Tränen über das Gesicht. Am Morgen danach standen nur noch die Außenmauern des Gebäudes. Es war der größte Brand der Nachkriegszeit gewesen, der je im dicht bebauten Münchner Stadtgebiet ausgebrochen war. Der Schaden wurde auf etwa zehn Millionen Mark geschätzt.
Mit der Herz-Jesu-Kirche ist damals ein Stück der Neuhauser Stadtteilgeschichte in Rauch und Flammen aufgegangen. Und es war vielleicht ganz gut, dass der ein Jahr zuvor verstorbene Pfarrer dieses Inferno nicht mehr erleben musste. Der Verlust seiner geliebten Pfarrkirche, in der er 28 Jahre gewirkt und für die er gelebt hatte, hätte ihm das Herz gebrochen.
Doch selbst im Zustand völliger Zerstörung hielt die Herz-Jesu-Kirche noch einige Überraschungen bereit. Ich kriege heute noch eine Gänsehaut, wenn ich an das Bild der beiden Freiwilligen Feuerwehrmänner denke, die aus den verkohlten
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