Notruf 112
Kampfmittelräumer in Göttingen das Leben gekostet hatte. Dieser Zünder steckt im Bombenheck. Beim Abwurf treibt der Fahrtwind eine Luftschraube an, die mit einer Spindel verbunden ist. Diese Spindel bohrt ein Loch in das Zündergehäuse, wo dann die Glasampulle mit dem Lösemittel Aceton zerbricht. Das Aceton zersetzt eine oder mehrere Kunststoffscheiben aus Zelluloid. Hat sich der Kunststoff aufgelöst, ist der Zündbolzen damit entsichert. Er schlägt auf den sogenannten Detonator. Und dann knallt es. Der Mechanismus ist so konstruiert, dass die Detonation irgendwann in einem Zeitraum von einer bis 144 Stunden erfolgen sollte. Die Zünderbox ist zudem mit unsichtbaren Stiften gesichert, die im Falle eines Ausbauversuchs eine sofortige Explosion auslösen können. Wenn die Erbauer dabei nicht gepfuscht haben – was auch schon vorgekommen ist –, dann ist solch ein Bombentypus nicht zu entschärfen. Eine wirklich bösartige Konstruktion, die im Krieg unzählige Menschen getötet hat.
Nie zuvor war in Deutschland eine solche Bombe mitten in einem belebten Stadtzentrum gefunden worden. Entsprechend fehlten die Erfahrungen: »Die entschärfe ich nicht, ich bin doch nicht lebensmüde. Wer rechnet denn mit so was?«, sagte der sichtlich erschrockene Sprengmeister noch am selben Abend in Interviews.
Das Problem: Die Bombe war nun bewegt und auch angehoben worden. Möglicherweise war damit die verhängnisvolle Säurereaktion bereits in Gang gesetzt worden. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt mehr einschätzen, ob und wann die Bombe nun explodieren würde. In einer Stunde, zehn Stunden, einem Tag – es war grauenhaft. 40 Jahre lang hatte das tückische Miststück unerkannt im Erdreich unter einer erst kürzlich abgerissenen Kultkneipe gelegen und in all den Jahren rein gar nichts von seiner Gefährlichkeit eingebüßt. Ein einfacher Druck von etwa 100 Gramm oder ein leichter Hammerschlag hätten genügt, um sie augenblicklich auszulösen.
Ab diesem Zeitpunkt war Schwabing im Ausnahmezustand. Mein Filmabend hatte sich damit auch erledigt. Ich fuhr geradewegs in die Leitstelle. Nicht ahnend, dass ich die folgenden Nächte mein Bett kaum noch sehen würde.
Noch in der Nacht wurde der Sperrring um die Bombe erweitert. Weitere 2000 Bewohner mussten sofort die Häuser verlassen. Die Rettungsdienste schwärmten also erneut aus, um alten, kranken und gehbehinderten Menschen aus den Häusern zu helfen. Viele lagen schon im Bett, als Feuerwehr und Polizei vor der Tür standen und sagten: »Sie müssen Ihre Wohnung verlassen. Bitte beeilen Sie sich.« Wer hätte zu diesem Zeitpunkt geglaubt, dass sich das Drama noch zwei weitere Tage hinziehen würde. Und dass einige der Anwohner ihr Zuhause, ihr Geschäft oder Lokal in diesem Zustand nicht mehr wiedersehen würden …
Wer konnte, kam bei Freunden oder Angehörigen unter. Für alle anderen richteten die Hilfsorganisationen und das Technische Hilfswerk in der Umgebung drei Akutbetreuungsstellen ein. In ganz München gibt es davon insgesamt acht, die nach einem festgelegten Alarmierungsplan jederzeit in Betrieb genommen werden können.
Ab diesem Zeitpunkt standen auch bei uns in der Leitstelle die Telefone nicht mehr still. Fragen über Fragen: Wo habt ihr meine kranke Oma hingebracht? Wo sind die Notunterkünfte? Wo soll ich denn jetzt schlafen? Ist meine Katze/mein Hamster/mein Sittich in Gefahr? Ich brauche meinen Laptop, muss unbedingt noch mal in meine Wohnung. Halten meine Fenster das aus? Soll ich das Wasser abstellen? Kann es brennen? Wer gießt jetzt meine Balkonpflanzen? Sind wir versichert? Was kann da schlimmstenfalls passieren? Können Sie garantieren, dass unser Haus stehen bleibt? Wann darf ich wieder heim? Wer schützt uns vor Plünderungen?
Die Fragen und Sorgen der Anwohner waren so zahlreich und vielfältig, dass wir uns entschlossen, zunächst bei uns in der Feuerwache 3 und später auch noch in der Hauptfeuerwache und in der Münchner Ordnungsbehörde Bürgertelefone einzurichten. Das war zum letzten Mal am 11. September 2001 nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon notwendig gewesen. Anders wäre der reguläre Betrieb der Integrierten Leitstelle gar nicht mehr möglich gewesen. In den Tagen der Bombenentschärfung haben wir mehrere Tausend Bürgeranfragen beantwortet.
Einsätze dieser Größenordnung kann man vorher einfach nicht üben. Dennoch funktionierte die Zusammenarbeit aller Beteiligten perfekt – als ob wir es
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