NOVA Science Fiction Magazin 19 (German Edition)
davor stehen, sind Sie vollkommen fassungslos. Es
ist eine Weile her, dass wir dort waren. Die Vereisung war lange nicht so stark
wie heute. Im Pazifik betrug sie nur ein paar Meter. Wir fuhren in einem
Eis-brecher der Union von Nippon I, dem früheren Tokyo. An dem Morgen, als die
Anlage in Sicht kam, waren alle Passagiere an Deck. Obwohl man aufgrund der
Dunkelheit nur einen Teil der Anlage sah - und den auch eher indirekt, soweit
er eben beleuchtet war -, war es überwältigend. Mehrere Kinder brachen in
Tränen aus. Eine junge Frau, mit der ich mich während der Überfahrt ein wenig
bekannt gemacht hatte, verlor die Selbstbeherrschung und wurde regelrecht
hysterisch. Das Beunruhigende rührt daher, dass Sie, selbst wenn Sie unmittelbar
davor stehen, es eigentlich nicht fassen können. Sie sehen etwas mit Ihren
eigenen Augen, das zugleich Ihre Vorstellungskraft übersteigt. So wie früher
den gestirnten Nachthimmel.“
„Da hätten wir das
eine Unfassbare durch das andere, selbstgemachte, ersetzt“, warf Steffens
unentschlossen ein, dem anzusehen war, wie er seine Skepsis gegenüber dem Thema
zurückhalten musste und vor der Erzählerin mühsam Interesse mimte. Sie ließ
sich aber weder von der Langeweile ihres Gegenübers, dessen Aufmerksamkeit
einzig ihrer Person galt, noch von der Zwischenbemerkung stören. Wenn sie
einmal in Fahrt ist, hält sie so schnell nichts auf. Sie hat dann auch keine
kalten Hände mehr.
„Genau“, sagte sie
bloß. „Sie wissen, dass die Anlage in etwa dem Bauplan des Eiffelturms folgt.
Vier hyperbelförmige Pfeiler, die oben in eine sich verjüngende Spitze
zusammenlaufen. Nur dass die Anlage im Pazifik den Eiffelturm ziemlich genau um
Faktor einhundert übertrifft. Davon ist aber nur die Hälfte zu sehen. Fünf
Kilometer sind im Wasser versenkt, bzw. im Eis. Und jede Stelze ist zehn
Kilometer tief im Untergrund des Ozeans verankert. Der sichtbare Teil erhebt
sich in die Stratosphäre, wo sich in fünfzehn Kilometern Höhe der Hauptreaktor
befindet. Als wir uns mit dem Schiff näherten, sahen wir nur die Nordwestliche
Stelze, die schräg und einen Kilometer breit aus dem flachen Eis aufsteigt und
sich als Lichtpfeiler im Himmel verliert, wo sie sich, oberhalb der unteren
Wolkenschichten, mit den anderen Stelzen zur Großen Plattform vereinigt.“
Ich hatte mich
zurückgelehnt und nippte an dem Rest meines Buttertees, der inzwischen schal
und abgestanden war. Mein suchender Blick nach Pâ prallte am eingekrümmten
Rücken des Alten ab, der immer noch wortlos über seinem CommCorder hockte. Notgedrungen
ließ ich mir von Steffens, der mit mattem Lächeln aus seiner Versunkenheit
erwachte, einen Grog einschenken. Ich glitt in meine Lethargie zurück.
Hervorgerufen von Ricardas Stimme zogen die Erinnerungen vorbei, die ich an
jenen Aufenthalt habe. Wir waren mit einer fünfzigköpfigen Gruppe von
Seismologen dort gewesen. Den ganzen Tag über wurden uns die verschiedenen
Abschnitte der Anlage gezeigt. Wir fuhren bis auf den Sockel der Stelze
hinunter und flogen mit dem Helikopter zum Südöstlichen Sektor, in dem sich die
geophysikalischen Institute befinden. Abends schlossen wir uns in unserem
Zimmer ein, einer komfortablen Suite, die den Vergleich mit den besten Hotels
in Thule II oder Northern Baltimore nicht zu scheuen brauchte, und verbrachten
Stunden im Whirlpool oder in der Sauna. Wenn ich heute zurückdenke, kommt mir
unsere Beziehung wie ein langes heißes Bad vor, ein dreijähriger gemeinsamer
Aufenthalt in warmem sprudelndem Wasser, aus dem sich nur ihre Knie und
Schultern abheben.
„Wir wohnten im Nordwestlichen
Turm“, fuhr sie unterdessen fort. „Allein in diesem Sektor leben und arbeiten
über zehntausend Menschen, von den Geologen in der Verankerung, fünfzehn
Kilometer unter dem Meeresspiegel, bis zu den Kerntechnikern, dreißig Kilometer
darüber im Reaktor. Wir sahen auch noch die Spuren...“
„Ich wollte gerade
fragen“, heuchelte Steffens, dankbar aufspringend. „Ich habe die Bilder von vor
neun Jahren noch gut in Erinnerung. Soweit ich informiert bin, hat man die
Folgen nie ganz beseitigt. Allerdings weiß ich auch nicht genau, warum.“
„Sie wissen gar
nichts!“
Der Alte fuhr auf
seinem Hochsitz herum.
„Und Sie haben auch
keine Vorstellung davon, was damals geschehen ist. Sie sind informiert, ja? Sie
haben die Bilder im Televisor gesehen. Vielleicht - denn Sie sind ein
aufgeklärter Bürger der Union - haben Sie Ihren CommCorder genommen
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