NOVA Science Fiction Magazin 19 (German Edition)
tragischer Würde. Beachten Sie die
Formulierung: er spricht nicht von Würde, wie die sentimentalen Proklamateure
vermeintlicher natürlicher Rechte. Er sagt: ein Hauch von tragischer Würde.“
5. Pâ
Der Tod hat sein
Gesicht verändert. Ein Mann wie der Alte würde normalerweise in dem Bewusstsein
leben, bald zu sterben. Aber er hätte die Gewissheit, dass die Menschheit ihn
überdauert und dass das Leben als solches von seinem persönlichen Verschwinden
nicht betroffen ist. Heute ist es umgekehrt. Der Alte und einige andere
Ausgewählte sind unsterblich, aber das Leben auf der Erde ist weitgehend
erloschen. Die Menschheit hat sich in unterirdischen Städten vergraben und
bewahrt in einigen Dutzend künstlich beleuchteten und klimatisierten Kuppeln
synthetische Archen, aus denen der Planet einst wieder begrünt werden soll.
Gegenwärtig zieht er durch die eisige Nacht des leeren Raumes. Hinter ihm
erlischt eine sterbende Sonne in blutiger Aufblähung, deren Todeskampf bald die
Bahnen der inneren Planeten mit seinem rostigen Brand überfluten wird.
Als der Alte sich
verabschiedet hatte und mit holzigen Schritten die Wendeltreppe
hinuntergestampft war, blieb ich zerschlagen sitzen. Hätte es nicht mein
vegetatives System für mich besorgt, ich wäre zum Atmen zu ermattet gewesen.
Nach einer Weile wurde mir bewusst, dass Pâ immer noch auf ihrem Schemel saß
und zu mir herübersah. Als ich ihren Blick suchte, erhob sie sich und kam mit
feinen Schritten herüber. Offensichtlich sah sie mir meinen ausgequetschten
Zustand an. Sie brachte mir eine Kanne aromatischen Tees, der mich erfrischte.
Während ich in kleinen Schlucken trank, nahm sie den Sitz ihres Vaters ein, der
sie als Greis gezeugt hat und der sie überleben wird, und sah mir aufmerksam
zu. Ich erholte mich und wies sie darauf hin, dass sie in Zukunft verhindern
müsse, dass den Gästen so entsetzliches Zeug ausgeschenkt werde. Sie lachte
kehlig und heiser und kicherte noch in sich hinein, als sie die Gläser und die
Flasche wegräumte, die wir vollständig geleert hatten. Dann setzte sie sich
wieder zu mir und betrachtete mich. Plötzlich war sie sehr ernst. Sie schien
mich zu mustern und dabei zu überlegen. Schließlich stand sie auf und bedeutete
mir, ihr zu folgen. Sie schlüpfte zwischen den Stellwänden durch, hinter denen
sich, wie ich vermutet hatte, die Küche befand. Allerdings war es zu dunkel,
als dass ich Wesentliches hätte erkennen können. Hinter der Gerätezeile öffnete
sich ein Gang, der vollkommen finster war. Ich tastete mich an den Wänden
entlang. Unwillkürlich ergriff ich ihre Hand, die sie mir rückwärts zu
gestreckt hatte, und ließ mich von ihr in die Schwärze hineinziehen. Die
Illusion, im Freien zu stehen, war perfekt und von beklemmender Intensität. Ich
stand geblendet in einer fünf Meter weiten Kuppel aus zoll-dickem Glas. Ringsum
lag die Landschaft aus Eis, das poröse Verwehungen bildete. Sonderbarerweise
war die Ebene, die von Triebschnee und böigem Wind überstrichen wurde, von
Scheinwerfern erleuchtet, die mehrere hundert Meter weit in die arktische Wüste
hinausgriffen. Es war vollkommen still. Von dem Sturm, der über unseren Köpfen
brüllte, war nichts zu hören. Als sie mich küsste, erloschen die Lichter. Wir
waren in bläuliche Dunkelheit gehüllt. Ich sank rückwärts auf ein niedriges
Bett, eine Art Futon, der als einziges Möbel in der Mitte der Kuppel stand. Sie
war stumm, aber ihre Liebe war von einer Wut, wie ich sie nie erlebt habe.
Am nächsten Morgen
brauchte ich sehr lange, um Traum und Wirklichkeit zu scheiden. Ich kann
höchstens zwei oder drei Stunden geschlafen haben. Pâ war verschwunden. Ricarda
saß schon vor ihrem Kaffee. Wir frühstückten in eisigem Schweigen und
verzichteten auf gegenseitige Vorwürfe oder Erkundigungen. Die Piste war
geräumt. Noch in der Nacht war ein Trupp von Räumrobotern durchgekommen.
Steffens brach auf und nahm Ricarda mit, die er zur Control Base brachte. Von
dort flog sie zu ihrer Mutter nach Thule II, das sie während des gesamten Urlaubs
nicht verließ. Ich versuchte sie mehrmals auf dem CommCorder zu erreichen,
wurde aber von einer hartnäckigen Verwaltungsautomatik abgewimmelt. Inzwischen
weiß ich, dass sie sich auf eine Station im südlichen Ural hat versetzen
lassen, immerhin einige tausend Kilometer näher an Europa. Außerdem sind die
dortigen Stationen schon an den Service-tunnel angeschlossen. Ich selbst bekam
weder Pâ noch den
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