NOVA Science Fiction Magazin 19 (German Edition)
Es war
zum Verzweifeln öde dort in dieser Kammer. Nie wieder wollte er sie betreten –
dann lieber ständig auf der Flucht sein.
Er
sah zu den verbleibenden Türen. III oder IV? Er entschied sich für die erste
von beiden. Einmal tief Luft holen, dann –
sah
er an sich herunter. Seine Füße staken in schwarzen Lackschuhen, seine Knie
schauten unter einem Wust aus Petticoats hervor, über denen sich ein gelber
Tellerrock mit aufgestickten Erdbeeren befand. Er selber hing am Ende einer
breiten Bandsäge, deren Holzgriffe zu mächtig waren für seine nur noch
puppengroßen Hände. Mit Schwung flog er dem Sägeblatt nach, das sich durch den
Stamm einer riesigen Sonnenblume fraß. Der Stängel war so dick, dass Paul kaum
die Gestalt am anderen Ende der Säge erkennen konnte. Hin und wieder blitzte
ein kariertes Holzfällerhemd auf, eine Zigarre, die aus einem Mundwinkel hing
und über allem lag ein Flirren und Lachen, Sonnenschein und der Geruch
abgebrannten Tabaks. Pauls Herz machte Bocksprünge vor Freude. Er wollte diese
Säge nie mehr loslassen, er wollte diese Welt nicht wieder verlassen, obschon
er wusste, dass diese Freude nicht seine Freude war, sondern die der Patientin.
Und weil es eben nicht um ihn ging, sondern um sie, musste er herausfinden, wer
der Holzfäller war. Folgerichtig ließ er sich bei einem Rückwärtsschwung fallen
und trat einen Schritt zur Seite. Aus dieser Perspektive konnte er den anderen
gut erkennen. Ein Braunbär stand dort, angetan in Jeans und Flanellkaros, die
Ärmel hochgekrempelt. Im Maul hing eine Zigarre mit gelbem Mundstück. Hin und
her rauschte das Sägeblatt, immer mehr Saft quoll aus dem Stängel der
Sonnenblume. Die Blüte hoch oben erzitterte, als sich die Säge der Einkerbung
näherte, die zuvor geschlagen worden war, um die Fallrichtung zu bestimmen. Als
sie schließlich einknickte und zu Boden rauschte, wandte Paul sich ab, ging
durch den Wald aus baumhohen Gräsern auf die weiße Tür zu, die seinen
Daumenabdruck trug. Hier war alles gesagt, gesehen, erfahren worden.
Ein
Griff, ein Zug, ein Ruck, ein Zuschnappen.
Paul
sah zur Tür hin. Schade, dass es so ein kurzes Intermezzo war. Dann sah er
wieder auf seine Hände und dachte sich, dass manche Dinge einfach besser sind,
wenn sie nicht verändert werden. Es blieb nur noch eine Tür. Er ging hindurch.
Und
fand sich auf einem Friedhof wieder. Er eilte durch die Grabreihen, eine Ratte
in den Händen, die im Sterben lag. Sie zuckte und trat mit den Pfoten, der Leib
war unnatürlich aufgequollen und schien mit jeder Minute größer zu werden. Als
er am Sterbehügel ankam, Klein Golgatha, wie die flache Erhebung von
irgendeinem Scherzbold getauft worden war, der auch gleich das passende Schild
in den Boden gerammt hatte, krampfte das Tier ein letztes Mal. Dann verschied
es in seinen Händen. Oben auf dem Hügel erschien eine Totengesellschaft und sah
zu ihm herunter. Da war kein Winken, kein Empfangen, da war keine Umarmung zu
erwarten, trotzdem erklomm Paul die Wölbung, denn er wusste nicht, wohin er
sich sonst wenden konnte. Bei der Gesellschaft angekommen, streckte er ihnen
die Ratte entgegen, doch die Trauernden verschränkten ihre Arme und starrten
ihn an. Er vermutete es jedenfalls, genau sagen konnte er es nicht. Denn alle
trugen weiße Masken vor ihrem Gesicht, so dass er vor zwanzig ausdruckslosen
Fratzen stand, die keine Hilfe, kein Verständnis und keinen Trost kannten.
„Bitte“,
flehte er trotzdem, „bitte, helft!“ Da wichen sie zur Seite, zehn nach links,
zehn nach rechts, und gaben den Blick frei auf ein dunkles gähnendes Rechteck,
von dessen Wänden Erdklumpen abbrachen und in der Tiefe verschwanden. Paul trat
näh-er. Die Reihen der Trauergesellschaft schlossen sich um ihn. Schweigend
standen sie hinter ihm, neben ihm. „Das Grab ist viel zu groß für sie“, sagte
er zu dem Maskierten, der direkt zu seiner Linken stand und hielt ihm die Ratte
vor das Gesicht. „Sie wird dort drinnen verloren gehen.“ Die Gestalt drehte
Paul den Rücken zu. „Hey“, pro-testierte Paul, „sehen Sie sich das Tier doch
wenigstens einmal an! Kann man denn gar nichts machen?“ Ein vielköpfiges Schweigen
lag in der Luft. Eine Maske schwebte von rechts heran, riss Paul den
Nagerleichnam aus der Hand und warf ihn im hohen Bogen in das Grab. Einen
Schritt zurück, schon stand die Phalanx der Maskierten wieder, eine stumme
Mauer, an der jede Regung abprallte.
Paul
trat an den Rand des Schachtes und
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