Nova
zwei Frauen, die aufrecht, ohne Furcht, zu Okla und Lebob gingen. Sie halfen dem Alten auf die Beine. Eine von ihnen wandte sich an Okla. »Weshalb machen Sie das? Ihr Krieg ist doch schon lange vorbei. Wir tun Ihnen nichts und wollen Ihnen helfen.«
Ihr Verhalten erzeugte in Emiel wieder die unerklärliche, nicht greifbare Unruhe, die seine Gefühlskälte aufbrach. Was waren das nur für Menschen. Sie zeigten sich nicht im mindesten beeindruckt von den Waffen und der Grausamkeit der Soldaten. Niemand hatte Furcht. Dabei genügte ein einziger Befehl Jardoks, und sie alle waren nur noch stinkende Asche.
Das hier war ein Dorf wie viele andere. Häuser, Bäume und Straßen, die zu strategischen Punkten wurden, weil sie beherrscht werden mußten. Beherrscht, das bedeutete das Ausschalten jedes Risikofaktors, bedeutete, daß jeder von ihnen um sich herum ein Vakuum schuf. Nur das erlaubte ihm, frei zu existieren. Schon das Rascheln der Blätter störte, es übertönte vielleicht den leisen Schritt des sich anschleichenden Gegners. Um wieviel mehr aber die Menschen. Erst wenn sie ausgelöscht waren, gab es Sicherheit für die Kompanie. Sicherheit für die Kriegführung. Ein Kreislauf des Todes.
Emiel wußte, daß er Partikel dieses Kreises war, verdammt, dessen bittere Konsequenz eines Tages selbst zu spüren, wenn der Ring sich schloß.
Der einfachen Tatsache, daß er nur einen kleinen Schritt zu gehen brauchte, um die Spur des Mordens zu verlassen, war er sich nicht bewußt. Niemand hatte ihm gesagt, was ihn hinter der Tür erwartete. Ohne ihn zu fragen, hatte man ihn in die Mühle des Krieges geworfen, die Stück für Stück seine Seele zerrieb und ihn untauglich machte für das Leben.
In diesem Moment fühlte er, wie Unsicherheit ihn beschlich. Er kannte Haß, Drang zum Töten und zum Überleben, kannte das alles seit seiner Schulzeit. Dann kam der Krieg, die Erfüllung dieser Gefühle. Doch das, was er jetzt vor sich sah, war kein Krieg mehr, wie er ihn kannte und akzeptierte. Es erinnerte an die verwundete Frau auf dem Wege und enthielt zuviel Neues, Unbekanntes, das den Rahmen sprengte.
Die Folter war ihm ein vertrautes Instrumentarium des Überlebens, wenn es galt, die persönliche Sicherheit durch zusätzliche Informationen zu erhöhen. Er vermochte sich zwar nicht an den Quälereien zu befriedigen, wie Jardok, Okla oder Esteban, doch nahm er sie als gegeben hin; wenn sie ihm notwendig erschien, duldete sie sein Gewissen.
Diese Leute… Emiel konnte sie plötzlich nicht mehr weiter als potentielle Feinde klassifizieren… dann aber war ihr Vorgehen sinnlos.
Okla und Lebob schrien in die Menge, doch ihre Fragen zerplatzten wie Seifenblasen. Die Menschen schwiegen. Das Sonderbare daran war, daß den Soldaten nicht wie sonst abgrundtiefer Haß entgegenbrandete, sondern nur Verwunderung und Neugier.
Wieder stürzte Emiel in den Strudel der rätselhaften Begebenheiten, bis sich eine andere, neue Welt vor ihm auftat.
»Die Leute wissen nichts«, hörte er sich auf einmal murmeln. »Die wissen nichts.« Lauter und deutlicher: »Wir leben nicht mehr in unserer Zeit, hört ihr? Wir sind in der Zukunft. Hört auf! Hört auf!« Jetzt rief er beschwörend und eindringlich, ohne zu wissen, woher er die Kraft nahm, sich aus der dumpfen Masse der Kompanie zu erheben. Er suchte nicht nur für sich selbst eine Erklärung, er meinte auch Jardok, griff ihn an, zerstörte seinen Befehl, zerriß ihn mit seinen Worten.
Mit wenigen Sprüngen war der Commiser heran, schlug Emiel die Faust auf den Mund. Die Lippen platzten auf, er schmeckte Blut.
Für Sekunden kämpfte Emiel zwischen sklavischer Ergebenheit und den Empfindungen und Erkenntnissen, die ihn jetzt erfüllten – und übersprang den klaftertiefen Abgrund der gewohnten Unterwerfung.
Mit dem Handrücken wischte er über die geschwollenen Lippen. »Es ist die Wahrheit. Wir haben Jahrhunderte in unseren Planen überdauert. Es gibt keinen Krieg mehr. Wir sind in der Zukunft. Ich weiß nicht, warum. Aber diese Leute da« – er wies mit dem Arm auf die schweigende Mauer, ohne Jardok aus den Augen zu lassen – , »die wissen nichts mehr vom Krieg. Und nichts von uns. Wir können sie schlachten, aber sie werden unsere Fragen nicht beantworten können .«
Jardoks Augen verwandelten sich in ein Kaleidoskop. Wut, Erkennen, Ratlosigkeit und ohnmächtiger Zorn spiegelten sich in rascher Reihenfolge wider. Doch wenn er sich durch Emiels Verhalten verunsichert gefühlt hatte, so ließ er es
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