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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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Telegrafenstangen, hielten sich stramm aufrecht, Brust heraus, und wollten den Heimkehrern ein gutes Beispiel geben. Auf den Drähten hockten struppige Spatzen und verkündeten den Reisenden, was eben gemorst wurde, an den »Rat der geistigen Arbeiter« im Reichstagsgebäude Berlin, ein Gedicht, ein edles Gedicht:
»Vor dem Freiheitssturm der Erde
Falle, wer nicht atmen kann.
Und der Frühlingszorn: es werde,
Schaffe, was kein Traum ersann.«
    Die Drähte bogen sich stolz, als diese delphisch dunkle Botschaft durch sie fuhr. Jedoch die Soldaten, gänzlich unempfindlich, bombardierten die Kolonne der Spatzen mit Apfelresten.

Hilde
    Die Haare aufgelöst, das Gesicht rötlich von dem warmen Dampf, der das enge Badezimmer dicht erfüllte, die Augen klar, träumend, so legte Hilde, völlig ausgekleidet, beide Hände auf den gebogenen Rand der Zinkbadewanne, führte einen Fuß prüfend in das sehr warme Wasser; langsam senkte sie den Unterschenkel auf den Boden der Wanne.
    Sie zog das andere Bein herüber und ließ den Fuß über der hauchenden Oberfläche des Wassers spielen. Dann tauchte sie ihn ein. Sie stand im Wasser, richtete sich auf, es war heiß. Die Wärme atmete von unten und beschnupperte sie wie ein Hund, jetzt schlug der dünne Dampf um ihre Arme, sie fühlte ihn an den Ohren, die Haare waren feucht, sie knotete sie im Nacken zusammen und ließ sich ins Wasser herunter. Sie machte keine Bewegung im Wasser, um nicht die Hitze zu vermehren. Sie fühlte, wie ihr Gesicht voller wurde und daß sie leicht erregt war. Das Wasser bedeckte nicht ihre Brust, sie streckte sich; es wogte gefügig um ihren Hals, über ihre Gurgel. Beide Arme lagen schlaff neben ihr.
    So blieb sie. Es war ein kalter Tag, es regnete nicht, dafür zog Nebel vom Rhein her über die Stadt. Es war vormittags, der Vater nicht zu Haus. Das Badezimmer lag nach dem Hof, undeutlich ließ sich das Poltern und Rumoren von der Straße vernehmen, das Klappern der Pferdehufe, in großen aufgelösten Scharen fluteten Truppen durch die Stadt und aus der Stadt heraus nach Kehl herüber. Das Ende der Räumungsfrist nahte.
    Sie hatte, obwohl schon tagelang in der Stadt, noch nicht ihn gesehn, mit dem sie den ganzen Krieg über den Namen Straßburg verband. Sie hatte keine Sehnsucht nach ihm, keine Furcht vor ihm.
    Warum war sie ins Bad gestiegen? Warum? Um wieder eine Tür hinter sich zuzumachen, den Dampf um sich schlagen zu lassen. Wie es brodelnd aus dem Hahn stürzte, hatte sie es traumselig begrüßt und mit einem kleinen Finger berührt. Sie sah es in der Wanne sich ausbreiten und legte sich dazu.
    Durch ihren Kopf, der nach rückwärts auf dem gebogenen Wannenrand ruhte, flogen Fetzen von Bildern, die entfernten russischen Landstraßen, vor einem kleinen Gehöft stand ein Landsturmmann mit einer Pfeife und blickte ihrem Wagen nach, die kleinen Panjepferdchen trabten, Feldpost wurde ausgeteilt, es ist kein Brief für mich dabei, wie schön, Bernhard hält sein Versprechen, wie er starr ist, er fühlt sich meiner sicher. Wenn ich am Nordpol wäre und im Eis versänke, würde er noch ruhig sein und sagen: es schadet nichts, du bleibst doch mein.
    Sie blickte aus schmalen Augenspalten vor sich. Hinten im Wasser lagen die rötlichen Füße mit den Zehen, die zu ihrem Körper gehörten. Weit streckte sich der Körper in der Wanne aus, die vollen anschwellenden Beine. An den Härchen der Unterschenkel hatten sich kleine Luftperlen wie Schnecken gesetzt, zu beiden Seiten ein heller Streifen, Kolonien, sie streifte sie ab, sie siedelten sich wieder an. Wie sie mit der Hand über ihren Leib strich, wirbelten die Perlen wie Champagnerbläschen auf.
    Sie atmete den Dampf ein, leichter Lavendelgeruch kam mit, ihre Augen drehten sich beiseite, sie lächelte, da lag auf dem Rand der Wanne ein Schwamm, und die Seife war ins Wasser gefallen, sie fischte sie heraus. Sie dämmerte, durch ihren Körper flutete das Blut in Stößen, überall zugleich, im Innern, in den Gliedern, durch den Kopf, das Herz schlug fühlbar und trieb und gab keine Ruhe.
    Was fiel von ihr ab? Vater und Mutter, ich bin da, dunkel mit dem Dunklen.
    Und sie wurde, wie sie still in dem Wasser lag – kleines Wesen in einer Zinkbadewanne, in der schmalen Kammer eines der zweistöckigen Häuser, die es in Straßburg gab –, wie sie dämmerte und atmete, Feld für das klopfende, das treibende Herz und die flutenden Blutmassen. In ihrem Leib machten Eingeweide windende schaukelnde Bewegungen, kleine

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