Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
Vom Netzwerk:
Münster errichtet war. Die Orgel hat sich besänftigt, und während sie flötet, hat er die Hände zu Pfötchen geschlossen und dreht sich zu dem Hochzeitspaar hin und wieder zurück. Er breitet die Arme aus, und so liest er aus dem Buch, nach vorn gebeugt, als wenn er sich vor dem Feuer schützt, das aus den Blättern schlägt. Dann läßt er die Arme herunter, die gefährliche Partie ist vorbei, er liest wieder friedlich stumm und schnüffelt. Die Orgel faselt leise, ein kleines weißgekleidetes Mädchen trippelt mit einem Körbchen zwischen den beiden Reihen der Gäste hindurch, sie werfen Geldstücke hinein. Plötzlich ein Klingeln, Stille, wieder ein Klingeln.
    Wie Hilde aufblickt, ist es hell in dem Riesenraum, der Hochaltar steht alltäglich mit den vielen Kandelabern da, anzusehen wie ein Arbeitsraum zu unbekannten Verrichtungen. Das bunte Gewimmel an den Glasfenstern. Die Steinplatten am Boden sind kalt, von allen Seiten strömt Kälte herein. Und da nützt auch das Klagen und Beschwören der Orgel nichts, Hilde reibt ihre Hände, kniet, flüstert ein Gebet am Gitter und geht.
    Ernst und freudig wandert sie dem Ausgang zu. Sie hat an einer Hochzeit teilgenommen und ist eingesegnet. Friedlich spaziert sie im Mittagslicht die Stufen herunter in die Stadt, ihre gute Stadt.
    Sie bekam zu lachen drüben vor dem Andenkengeschäft. Leute standen davor, lasen laut den Text von Ansichtskarten, die an der Innenseite befestigt waren.
    Auf einer Karte, mit Trauerrand, waren zwei alte Stiefel gezeichnet. Darunter las man: »Statt besonderer Anzeige. Schmerzerfüllt teilen wir allen unsern Freunden und Bekannten mit, daß unsere innigstgeliebten letzten Paar Lederschuhe, versehen mit allen Mitteln der Reparaturkunst, eingeschmiert mit Rind- und Wagenfett, an Altersschwäche und Sohlenschwund im hoffnungsvollen Alter von vier Jahren ihr seliges Ende gefunden haben. Auf ihnen stand, auf ihnen bewegte sich unser ganzes Leben. Morgens beim Erwachen warteten sie im vollen Wichs am Bette und brachten uns ihren Gruß, sie setzten sich mit uns zum Kaffee, sie saßen mit uns zu Tisch, sie begleiteten uns ins Kino, ins Theater, auf die Berge. Mit ihnen verlebten wir unser süßestes Stelldichein. In der Hochzeitsnacht bewachten sie vor der Tür unser junges Glück. Die treuen Stiefel haben uns in Freud und Leid nie verlassen. Ihr Andenken wird uns unvergeßlich bleiben. Die Beisetzung findet vom Hauptportal des Bekleidungsamtes statt. Nach der Feier wird ein Bezugschein für ein Paar neue Stiefel verlost. Trauerrede Wirklicher Geheimrat Doktor Barfuß.«
    Eine andere Karte zeigte das Photo eines großen Brotes: »Letzte Aufnahme nach dem Leben.« Darunter hieß es: »Heute abend neun Uhr wurde im Kreise seiner Familie unser innigst geliebter guter letzter Laib Brot im Alter von kaum sechs Tagen nach sorgfältigem Sparen und Einteilen sanft und schmerzlos und ohne Rest aufgezehrt. Von Blumenspenden und Kondolenzbesuchen bitten gefälligst Abstand zu nehmen die Hinterbliebenen: Jeremias Ohne-Mehl, Familie Mager-Dürr, Dorothea Fettlos.«
    Hilde lachte mit.
    Sie hatte Lust, heute Bernhard zu sehen, den schlimmen Minotaurus in seiner Höhle. Sie möchte erleben, wie er seine Klauen nach ihr ausstreckt.

Matrose Thomas
    Was war aus unsern Matrosen geworden, die in der Mittwochnacht schlafend, im donnernden Sonderzug, von Wilhelmshaven über Münster, Osnabrück, Köln rasten, um dem Elsaß zu zeigen, was eine deutsche Revolution ist? Denn die Alliierten drängten, aus dem Mittwoch wurde unabwendbar Donnerstag, der Vierzehnte, und wer erst in den Strom des Vierzehnten gestiegen war, konnte sicher sein, daß er lebend oder tot – und er konnte am Donnerstag so hängen, wie er wollte – zum Freitag, dem Fünfzehnten getragen wurde. Und da konnte ihn der berechtigte Abscheu vor dem Freitag und dem Sonnabend nicht schützen.
    Am ersten Tage der Matrosenankunft Jubel im Soldatenrat, begeisterte Reden, liebevolle Umarmungen, aber am Nachmittag Genosse Peirotes, um zu sagen, was er zu sagen hatte. Die Alliierten und der 22.November warfen ihren Schatten voraus. Da waren sie schon nicht mehr glücklich. Und als sich nun Altdeutsche an sie heranmachten, die sich gar nicht revolutionär gaben, da wurde ihnen ganz schwül. Sie setzten sich in den Justizpalast zu den andern – was sollten sie allein machen, im Schmollwinkel – und bildeten den »Marinerat«, teils weil ein Soldat ein Soldat und ein Matrose ein Matrose ist, teils weil sie

Weitere Kostenlose Bücher