November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
wieder die feindlichen Linien überschritten, sahen sie, daß drüben Revolution war, daß es keinen Kaiser und keine wirkliche Regierung mehr in Deutschland gab. Die Welt hatte sich in den schweren vier Tagen verändert. Auch das Telegramm, das sie zuletzt erhielten, war von keiner Regierung und keinem Reichskanzler verfaßt. Es war im allgemeinen Wirrwarr von der Obersten Heeresleitung abgesandt.
Denn es eilte ungeheuer.
Das war geschehen.
Am Vormittag des Montag, dieses 11.November, trat in London ein wohlbeleibter Herr mit flatternden weißen Haaren aus dem Haus Downing Street 10. Er winkte auf den Treppenstufen mit beiden Armen und rief den Leuten, die da auf dem Damm und der andern Seite standen, und den Schutzleuten erregt und freudig etwas zu, was sie nicht verstanden. Man drängte sich um ihn, weil er so heftig winkte und sich offenbar bemerkbar machen wollte. Bald war die Straße von Menschen voll. Der Mann sagte immer dasselbe: Heute morgen um elf ist der Krieg zu Ende. Sie stürzten auf ihn, schüttelten ihm die Hand, klopften ihm auf die Schulter. Es war der Minister Lloyd George. Er wußte nicht, wie er wieder ins Haus kam. Man hatte ihn gradezu befreien müssen. Drin stand er nachher zwischen seinen beiden Sekretären und lachte und lachte.
Am Nachmittag tönte seine kräftige Stimme im Unterhaus und verkündete das Ereignis: »Der grausigste und fürchterlichste Krieg, der je die Menschheit zerfleischte, hat heute geendet. Ich hoffe, daß an diesem ereignisvollen Morgen der letzte aller Kriege zu seinem Ende kam (langer, langer Beifall). Unsere Herzen sind übervoll von Dankbarkeit. Ich beantrage sofortige Vertagung des Hauses, um in der Kirche unsern Dank für die Befreiung aus großer Gefahr darzubringen.«
Es war die graue Parlamentskirche, in die sie dann feierlich zogen, unter dem Läuten aller Glocken.
Die Glocken mußten lange läuten, bis sich über der alten Kirche in dem schwarzen Gewölk das Gesicht des Ewigen zeigte, der die Wolken auseinanderschob, auf sie herunterblickte und ihre Worte hörte. Er sagte, und sie vernahmen ihn während ihres Gesanges: »Ich habe mich nicht gezeigt, solange ihr Krieg führtet. Ich habe mit Tobsüchtigen und mit Verbissenen nichts zu tun. Daß die Menschen von mir abgefallen sind, weiß ich schon lange. Ich hätte euch erschaffen und dann zum Nordpol tragen müssen, ins Eis, damit ihr euch nicht regt. Euer Geschrei und Glockenläuten macht auf mich nicht den mindesten Eindruck. Aber weil ihr Dankbarkeit fühlt, höre ich euch an. Ihr fühlt, wie dies wohltut. Ich traue euch nicht. Ich traue euch nicht.« Er schrie nochmal: »Ich traue euch nicht!«
So grollte der Ewige in dem schwarzen Gewölk über der Parlamentskirche.
Er sprach dasselbe in Paris und andern Hauptstädten. Sie hörten ihn und waren von einem feierlichen Schauer durchflossen.
Darum fielen sich an dem Tag in London, Paris und andern Städten viele Leute, die sich nicht kannten, auf der Straße um den Hals, weinten und erkannten sich als Menschen.
Er aber, der aus dem Dunkel gerufen hatte, hielt sich bei ihrem Jubel, den Tränen und der Dankbarkeit, die ihm schon zu bekannt waren, nicht auf. Er widmete sich wieder der grausigen Beschäftigung, der er in den letzten viereinhalb Jahren nachgegangen war: im Finstern den Schmerz, die Hilflosigkeit, den stummen Ingrimm der Soldaten, der wehrlosen Männer in Waffen, nachzufühlen, der allgemeinen Tobsucht beizuwohnen, sich zu mühen, wenigstens zeitweise ihrer Herr zu werden, jedoch nur, um zu erkennen, wie ihm alles entglitt.
Wie Wurzeln eines Baumes, die tief und weitverzweigt im Boden haften, so riß die deutsche Armee, als die Nachricht vom Waffenstillstand kam, erschüttert und getroffen, ihre Truppen aus den Unterständen, Gräben und Häusern. Sie mußten sich furchtbar beeilen.
Bis zum 17.November sollten sie im Norden über Antwerpen-Termonde hinaus sein, weiter südlich über Longwy– Briey–Metz–Zabern–Schlettstadt, ganz südlich, westlich vom Rhein, bis an die Straße Neu-Breisach–Basel. Dann hatte man aber keine Zeit, sich auszuruhen, und ob es Wind oder Regen, Gebirge oder Flachland war, man mußte am Einundzwanzigsten marschiert, gerannt oder gefahren sein bis nach Turnhout und zum Hasseltkanal, Diest, bis zur Nordgrenze von Luxemburg. In Luxemburg und Elsaß-Lothringen durfte sich keiner mehr blicken lassen. Bis zum Siebenundzwanzigsten sollten sie aus ganz Belgien gejagt sein. Es hieß weiter, sie sollten sich
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